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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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geben und es antraben konnte, war ein helles Surren zu hören. Etwas fegte nur um Haaresbreite über das Mädchen hinweg und fand mit einem hässlich beiläufigen Geräusch sein Ziel.
    Das Mädchen brüllte wie von Sinnen, als es den Pfeil sah, der Kathans Kettenhaube durchschlagen hatte und in seinem Kopf steckte.

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16
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    »Und wenn von diesen Völkern jemand stirbt, verzehren ihn gierig seine Verwandten und Freunde.«
    Brief des Johannes Presbyter, 63 – 64
    Ausläufer des Zagrosgebirges
Morgen des 1. Mai 1187
    Rowan hielt den Atem an.
    Die fremde Gestalt hatte sich bis auf wenige Schritte genähert.
    Am Boden liegend, seitlich verdreht und in unbequemer Haltung, konnte er ihre Beine sehen, wie sie langsam auf und ab gingen, einem Raubtier gleich, das Beute gewittert hatte.
    Die ganze Nacht über hatten Cassandra und er ausgeharrt, zwischen Dornen und harten Wurzeln, am ganzen Leib frierend vom Regen, der irgendwann eingesetzt und ihre Kleider durchnässt hatte. Mit Donnergrollen war die Wetterfront über sie hinweggezogen und hatte den Aufenthalt im Versteck vollends zur Qual gemacht; beschwert hatte sich Rowan dennoch nicht, denn der Regen verwischte auch die Spuren, die sie auf ihrer Flucht hinterlassen hatten.
    Durch das Rauschen des Regens hatten sie hin und wieder Stimmen gehört, die sich in einer fremden Sprache unterhielten, die weder Rowan noch Cassandra je zuvor gehört hatten. Für das Empfinden des jungen Mönchs hörte sie sich rau und barbarisch an, und er musste unwillkürlich an den Brief des Presbyters denken, der von wilden Völkerschaften berichtete, die erbarmungslose Krieger waren und sich von Menschenfleisch ernährten.
    Hatte Farid am Ende recht gehabt? Waren sie zu weit in das unbekannte Territorium vorgedrungen? War dies ihre Strafe?
    Rowan hatte sich an das erinnert, was Bruder Cuthbert ihm beigebracht hatte, nämlich sich stets nur an das zu halten, was als erwiesen galt, und Spekulationen zu vermeiden. Auf diese Weise war es ihm gelungen, seine Panik niederzukämpfen und mit Cassandra auszuharren. Bis irgendwann der Regen nachgelassen und die Dämmerung eingesetzt hatte.
    Je heller es wurde, desto größer war die Gefahr der Entdeckung geworden, und sofern kein Wunder geschah, würde genau das in wenigen Augenblicken passieren. Noch immer ging der Fremde auf und ab, Sand und Steine knirschten unter seinen Stiefeln. Rowan merkte, wie sich Cassandra schutzsuchend an ihn drängte. Um ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben, hatte er sie die ganze Nacht über in den Armen gehalten, inzwischen spürte er seine Glieder kaum noch.
    Er drehte den Kopf, so weit er es vermochte, um so vielleicht einen Blick auf den Fremden zu erhaschen, aber er sah nichts als ein weites Gewand. Ob der Kerl bewaffnet war? Rowan erwog, ihn anzugreifen. Aber womit? Seinen Stock hatte er auf der Flucht verloren, er würde also mit bloßen Händen kämpfen müssen. Außerdem musste er sich erst einmal aus dem Dornengestrüpp arbeiten, und bis dahin hatte ihn der andere längst entdeckt und wie ein Spanferkel durchbohrt.
    Schweiß trat ihm trotz der morgendlichen Kälte auf die Stirn. Was sollte er tun? In diesem Moment hätte er manches darum gegeben, Bruder Cuthbert bei sich zu haben, der sicher Rat gewusst hätte. Doch sein Meister war spurlos verschwunden, und es war fraglich, ob er überhaupt noch am Leben war.
    Erneut fühlte Rowan eine Woge der Verzweiflung in sich emporsteigen, und vielleicht hätte sie ihn diesmal mit sich fortgerissen, hätte er nicht in diesem Moment die Stimme gehört.
    »Hier scheint niemand zu sein, die Spuren verlieren sich!«
    Rowan war wie vom Donner gerührt.
    Dieser Fremde war kein Wilder, der sich irgendeiner unverständlichen Zunge bediente! Er sprach Französisch, und das noch dazu ohne jeden Akzent. Wie war das möglich?
    Er warf Cassandra einen fragenden Blick zu, in deren bleichen, zerkratzten Zügen jedoch nur eine Mischung aus Furcht und Verblüffung zu lesen stand.
    »Ich komme jetzt zurück«, kündigte der Mann an.
    Rowan wollte sich schon aufrichten und dem Fremden zu erkennen geben – doch Cassandra hielt ihn zurück.
    Rowan schaute sie verwundert an. Sie konnten nicht flüstern, ohne sich zu verraten, doch er sah die Warnung in ihrem Blick, während er bereits hörte, wie sich der andere entfernte.
    Einen Augenblick lang wog Rowan ihre Chancen ab – und traf eine Entscheidung. Sie waren rings von wilder Natur umgeben und von heidnischen Volksstämmen, die

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