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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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und keuchend Luft. Alles, was sie sagte, schien sich in ihren braunen Augen widerzuspiegeln.
    »Pater Edwin kam zu mir. Er sagte mir, dass ich im Haus bleiben und die Tür verbarrikadieren solle, dass ich nicht herauskommen solle, egal, was draußen geschähe. Ich tat, was er sagte, aber ich fürchtete mich und hatte schreckliche Angst. Selbst jetzt noch …« Sie unterbrach sich und betrachtete ihre Hände, die zitterten und feucht waren von Schweiß.
    »Was … ist dann geschehen?«, fragte der Ritter vorsichtig. »Weißt … du es noch?«
    »Ich tat, was man mir auftrug, und wartete. Ich hörte Schreie, die von draußen zu mir drangen, sah helles Feuer. Dann wurde die Tür des Hauses aufgebrochen, und jemand kam herein.« Ihr Blick richtete sich auf den Gefangenen, und das Bild des alten Recken, der gefesselt vor ihr saß, sein von Falten und Narben und der Augenklappe entstelltes Antlitz verschmolzen für einen Moment mit dem des Mannes aus ihrer Erinnerung.
    Dieselben schmalen Züge.
    Dieselben eisblauen Augen.
    »Du bist das gewesen«, flüsterte sie, und als hätte ihr Verstand nur auf diese Erkenntnis gewartet, hob sich der Schleier, der bis zu diesem Augenblick noch über ihrer Vergangenheit gelegen hatte, und sie sah alles mit einer Deutlichkeit und Schärfe, als wäre es eben erst geschehen.
    Die Zerstörung von Forêt.
    Ihre Angst und ihre Verzweiflung.
    Ihre Reise in der Gewalt der drei Templer.
    »Deine Gefährten und du, ihr habt mich aus meinem Dorf entführt. Ihr habt alle getötet, auch Pater Edwin!«
    Mit Bestürzung nahm sie wahr, dass auch ihr Meister unter den Entführern gewesen war. Die Tatsache, dass er ihr nie davon erzählt hatte, legte nahe, dass er sie hatte täuschen wollen. Sie entsann sich ihrer Einsamkeit, der schlaflosen Nächte, die sie verbracht hatte.
    Und sie erinnerte sich auch an ihn:
    Gaumardas !
    Der Name allein war blanker Schrecken. Wie ein Schatten aus der Vergangenheit tauchten die ausgezehrten, von flammend rotem Haar umrahmten Züge des Templers vor ihr auf. Der auf bizarre Weise verdoppelte Mund verzerrte sich zu einem Grinsen, während der Blick seiner kleinen Augen stechend auf ihr ruhte …
    Entsetzen schüttelte sie, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, wieder auf jener Lichtung zu sein, wo das Unfassbare sich zugetragen hatte. Dann die Rettung, Kathan, dessen Schwert zuerst Pater Edwin getötet hatte und nun die Brust des Frevlers durchstieß.
    Trauer und Hoffnung.
    Schuld und Sühne.
    Der Ritt nach Metz, die Tage und Nächte, die sie in der Obhut eines Mannes verbracht hatte, an dessen Gesicht sie sich kaum noch erinnerte, dafür umso deutlicher an sein Gewand, das schwarz gewesen war wie die Nacht. Und an seine Stimme.
    Was weißt du?, hatte er sie immerzu gefragt. Was weißt du über die Zukunft unseres Ordens? Den Untergang von Jerusalem?
    Noch einmal durchlebte sie die schreckliche Angst, die sie gehabt hatte, als sie von Kathan getrennt wurde, hörte ihre eigenen Schreie. Die folgenden Eindrücke brachen wie ein Unwetter über sie herein: Mercadier, wie er ihr ein kleines Fläschchen gab, dessen Inhalt sie in das Nachtmahl der ihn begleitenden Soldaten schütten sollte … die Leichen der Soldaten im Morgengrauen … ihr Gewissen, das sie quälte, und ihre Furcht vor Strafe … Sein Versprechen, für sie zu sorgen und sie gegen alle Widerstände zu beschützen.
    Irgendwann hatte sie ihm geglaubt, und je größer ihr Vertrauen wurde, desto mehr vergaß sie, was geschehen war. An Mercadiers Hand hatte sie die alte Welt verlassen und war ihm in eine neue Welt gefolgt, in der andere Regeln und Gesetze galten und ihre Gabe nicht als Fluch betrachtet wurde, sondern als Segen. Und mit ihrer Kindheit in Damaskus und der Ausbildung durch ihren Entführer, der zu ihrem Meister geworden war, schloss sich der Kreis ihrer Erinnerungen, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, sich selbst zu verstehen.
    Bis dahin hatte sie nur Befehle ausgeführt, hatte getan, was man ihr auftrug, um anderen zu genügen und in den Augen ihres gestrengen Mentors Gefallen zu finden. Nun jedoch wusste sie, wer sie war – und es gefiel ihr nicht. Sie kannte jetzt die Wahrheit, wusste, warum sie die Sprache der Franken beherrschte, weshalb sie eine Brandwunde an ihrer Schulter hatte und weshalb jenes kleine Holzpferd ihren kostbarsten Besitz darstellte. Aber gleichzeitig bedeutete es auch, dass das, was sie bislang für wirklich und wahr erachtet hatte, nichts als eine

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