Das verschollene Reich
dreiste Lüge gewesen war!
»Sollte tatsächlich so viel Zeit vergangen sein?«, brach Kathan endlich das Schweigen. Es klang, als ob er gegen seine Überzeugung spräche, jedoch war er offenbar bereit, sich dem Augenschein zu beugen. »Sieh dich nur an.«
Sie schaute an sich herab, fragte sich, wie er sie sehen mochte, und sie beneidete ihn darum. Denn sie selbst wusste nur zu gut, dass sie nicht mehr jenes kindliche, unschuldige Wesen war, als das der Ritter sie in Erinnerung hatte. Im Auftrag ihres Meisters hatte sie manches getan, worauf sie nicht stolz war. Weder vor Verrat noch vor Mord hatte sie zurückgeschreckt und auch nicht davor, ihren Körper so einzusetzen, wie die Lage es erforderte – und alles nur, um das Wohlwollen eines Mannes zu gewinnen, der sie ihr Leben lang belogen hatte, während derjenige, der ihr nach Pater Edwin am ehesten ein Vater gewesen war, gefesselt und zerschunden vor ihr kauerte, ein Schatten seiner selbst, dem Wahnsinn nahe und gebeugt von Schuld.
Sie wollte sich ihm nähern, wollte sein Gesicht berühren, ihn begrüßen wie ein Kind, das seinen Vater verloren und nach langer Zeit wiedergefunden hatte. »Ich bin es«, flüsterte sie. »Das Mädchen, das du einst gerettet hast!«
»Nein.« Sein ablehnender Blick traf sie. »Das Mädchen, das ich gerettet habe, ist tot. Was du bist, weiß ich nicht. Ein Werkzeug des Feindes, eine Puppe Mercadiers. Das Mädchen, das ich kannte, war voller Unschuld, es hätte sich niemals für seine dunklen Pläne missbrauchen lassen.«
»Nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Das darfst du nicht sagen …«
»Aber noch ist nicht alles verloren. Sollte ich jemals diese Fesseln abstreifen, so werde ich meinen Fehler ausmerzen, das schwöre ich, so wahr ich vor dir sitze.«
»Aber…«
Sie wollte widersprechen, aber sie sah ein, dass es sinnlos gewesen wäre. So viel Kälte, so viel Abweisung sprach aus seinem Blick, dass sich jedes weitere Wort erübrigte. Kathan hatte sein Urteil über sie gefällt – und womöglich hatte er sogar recht damit. War sie Mercadier nicht bedingungslos gefolgt? Hatte sie sich nicht bereitwillig zur Dienerin Saladins machen lassen? Hatte sie nicht Menschen ohne Zögern verraten und jene enttäuscht, die sie liebten?
Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus.
Sie sprang auf, und verfolgt von Kathans stechendem Blick stürzte sie aus dem Zelt ins Freie, zurück ins helle Tageslicht. Sie wusste nicht, wohin sie sollte, wollte nur weg vom Lager und mit ihren Gedanken allein sein, wollte herausfinden, wer sie war und auf wessen Seite sie stand – aber sie kam nicht weit. Plötzlich stand Mercadier vor ihr und versperrte ihr den Weg.
»Nun, Kind?«, fragte er.
Für einen Augenblick war sie wie erstarrt, brachte kein Wort hervor. Zu ungeheuerlich war das, was sie erfahren hatte, zu umwälzend waren die Folgen. »Ich bin nicht Euer Kind«, stieß sie hervor, »so wenig, wie Ihr mein Vater seid.«
Wenn er überrascht war, so zeigte er es nicht. »Nein«, gab er unumwunden zu, »aber ich bin das, was einem Vater am nächsten kommt.«
»Niemals.« Sie schüttelte den Kopf, Tränen in den Augen. »Pater Edwin ist wie ein Vater für mich gewesen, ebenso wie Kathan. Beide wolltet Ihr töten lassen.«
»Du irrst dich. Nicht ich habe den armen Edwin getötet, sondern dein hoch geschätzter Kathan. Er und kein anderer hat sein Schwert in die Brust des Paters gestoßen!«
»Doch nur, weil Ihr ihn dazu gezwungen habt!«, widersprach sie trotzig. Die ziellose Wut, die sich in ihr aufgestaut hatte, brach sich jetzt Bahn. »Ich erinnere mich an alles! An all die Dinge, die Ihr mich habt tun lassen! Auf Euer Geheiß habe ich gelogen und gemordet, bin für Euch zur Hure geworden – und das alles nur, um Eure Anerkennung zu finden. In all den Jahren habe ich mich immer gefragt, warum Ihr die Zuneigung, die ich Euch schenkte, nicht erwidert habt, glaubte, nicht gut genug zu sein, um Euren Ansprüchen zu genügen. Nun kenne ich den Grund dafür – und ich hasse mich für das, was Ihr aus mir gemacht habt!«
Mercadier hielt ihrem lodernden Blick stand. Was er dachte oder empfand, war nicht zu erkennen. »Mein Kind«, sagte er dann, »ich habe immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde.«
»Welcher Tag? Da ich Eure Lügen durchschaue? Da die Erinnerung an die Kindheit zurückkehrt, die Ihr mir genommen habt?«
Seine Miene blieb unbewegt. »Ich erwarte nicht, dass du begreifst, was ich für dich getan habe, oder dich mir gegenüber
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