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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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sehen, die anderen verborgen bleiben. Eine äußerst vorteilhafte Gabe, wenn man weiß, wie sie einzusetzen ist.«
    Kathan schaute die junge Frau an, die noch immer vor ihm kauerte, jedoch ihr Haupt leicht angehoben hatte, sodass er ihr von Schlägen gezeichnetes Gesicht sehen konnte, ihre von Tränen geröteten Augen. Sie sah ihn ebenfalls an, ihre Blicke begegneten sich, und für einen kurzen Moment gab es etwas wie ein zaghaftes Erinnern.
    Aber es konnte nicht sein!
    Mit aller Kraft wehrte sich Kathan gegen das, was sein Erzfeind ihm einreden wollte. Das Mädchen, das er aus den Fängen des Ordens befreit und das man ihm im Wald von Othe von der Seite riss, war noch klein und gering an Jahren, brauchte seine Stärke und seinen Schutz. Nur so war sein Kampf zu rechtfertigen, nur so ergab alles Sinn, nur so konnte die Ordnung wiederhergestellt werden, die sie damals zerstört hatten …
    »Rede, was du willst«, beschied Kathan ihm trotzig, »ich glaube dir nicht!«
    »Was denn? Waren der Trennungsschmerz und die Einsamkeit so groß, dass du darüber den Verstand verloren hast? Oder hat der Bolzen in deinem Kopf doch deutlichere Spuren hinterlassen, als auf den ersten Blick zu erkennen ist? Bildest du dir tatsächlich ein, dass sie nach all den Jahren noch immer ein kleines Mädchen ist? Dass sie womöglich sehnsüchtig darauf wartet, dass du sie findest und aus der Hand ihrer Häscher befreist?« Mercadiers Gelächter war laut und schmutzig. »Wie überaus anrührend.«
    »Spotte nur«, knurrte Kathan. »Nichts von dem, was du sagst, wird mich überzeugen.«
    »Natürlich nicht – weil du dir dann eingestehen müsstest, dass du in all den Jahren einem Wahn erlegen bist, dass du dich mit einem Trugbild getäuscht hast. Aber ich werde es dir beweisen.«
     »Es mir beweisen?« Kathans verbliebenes Auge verengte sich kritisch. »Wie?«
    Statt zu antworten, packte Mercadier die junge Frau unter der Achsel und zog sie zu sich hoch. Kaum stand sie aufrecht, riss er Mantel und Tunika herab und entblößte ihre linke Schulter. Die Haut war an dieser Stelle gerötet und von Runzeln durchzogen, fraglos die Folge einer Brandverletzung. »Erinnerst du dich an die Nacht, in der diese Narbe entstand? Unser Bruder Gaumardas würde sich sicher entsinnen, wenn er noch unter den Lebenden weilte.«
    Gaumardas.
    Der Name flackerte durch Kathans Bewusstsein wie ein Blitz in wolkenverhangener Nacht, jedoch weder hell noch lange genug, um die Dunkelheit zu vertreiben.
    »Du lügst«, stieß er trotzig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Alles, was du sagst, ist Lüge!«
    »Und – dies hier?«
    Nicht Mercadier hatte dies gesagt, sondern die junge Frau selbst. Schweigend hatte sie den Wortwechsel verfolgt, waren ihre Blicke zwischen den beiden Männern hin und her gehuscht … und unvermittelt hatte sie in die Falten ihres Gewandes gegriffen und etwas hervorgezogen, das sie Kathan jetzt hinstreckte.
    Es war ein unscheinbarer Gegenstand, von unbeholfener Hand aus Holz geschnitzt, das glatt war vom häufigen Gebrauch: ein kleines Holzpferd, von dessen Beinen eines abgebrochen war.
    Als Kathan es erblickte, kam es ihm vor, als würde die Zeit enden. Die Maske, die er getragen hatte, wurde ihm herabgerissen, die Wahrheit trat hervor, klar und unabänderlich. Und diese Wahrheit besagte, dass die Vergangenheit abgeschlossen war und sich nichts wiedergutmachen ließ, niemals wieder.
    Kathan hatte versagt.
    In jeder Hinsicht.
    »Vielleicht«, sagte Mercadier, während er die junge Frau losließ und sich mit hämischem Grinsen zum Gehen wandte, »lasse ich euch jetzt besser allein …«

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9
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    » Der Palast, in dem unsere Vorzüglichkeit residiert, ist nach dem Vorbilde der Festung erbaut, die der Apostel Thomas dem indischen Könige Gundoforus baute.«
    Brief des Johannes Presbyter, 210 – 213
    Zagrosgebirge
Zur selben Zeit
    Es war schnell gegangen.
    Von Felsbrocken zu Felsbrocken huschend, war Rowan den Hang hinab zu einem der herrenlosen Karren geeilt, und ohne dass einer der seltsam aussehenden Fremden ihn bemerkte, war er auf die Ladefläche gesprungen und hatte sich unter die Bündel von Holz und Flechten gewühlt. Dort lag er nun mit heftig pochendem Herzen und wartete ab.
    Er konnte die Stimmen der Männer hören, die den verunglückten Wagen reparierten, ihr angestrengtes Stöhnen und ihr entsetztes Geschrei, als die Nabe abermals nachgab und der Karren kippte. Schließlich gelang es ihnen jedoch irgendwie, das Rad zu

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