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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Festung sein, von der Cassandra gesprochen hatte? Mehr noch, war er am Ziel seiner Reise angelangt? War dies das Reich des Priesterkönigs Johannes?
    Jenseits des Tores wartete die Antwort.
    Oder der Tod.

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10
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    »Da gingen den beiden die Augen auf, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren.«
    Genesis 3,7
    Sarazenisches Kriegslager
Zur selben Zeit
    Dies ist das Mädchen, das wir einst in dem Dorf Forêt gefunden haben und das die Gabe besitzt, Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben.
    Oder hat der Bolzen in deinem Kopf doch deutlichere Spuren hinterlassen, als auf den ersten Blick zu erkennen ist?
    Bildest du dir tatsächlich ein, dass sie nach all den Jahren noch immer ein kleines Mädchen ist?
    Die Worte ihres Meisters klangen in ihrem Bewusstsein nach wie ein Echo, das nicht verhallen wollte. Und mit jedem Widerklang hatte sie das Gefühl, der Wahrheit ein wenig näher zu kommen, auch wenn sie sich plötzlich nicht mehr ganz sicher war, ob sie das wirklich wollte.
    »Darf … darf ich es sehen?«
    Mit dem Kinn deutete der einäugige Ritter, der gefesselt vor ihr auf dem Boden kauerte, auf das Holzpferd in ihren Händen.
    Solange sie denken konnte, befand sich das Spielzeug in ihrem Besitz, ohne dass sie gewusst hatte, woher es stammte. Dennoch hatte sie es über all die Jahre wie einen wertvollen Schatz gehütet und vor fremden Augen verborgen. Vorhin jedoch, ohne dass sie den Grund dafür hätte nennen können, hatte sie plötzlich das Gefühl gehabt, dass das unscheinbare kleine Spielzeug Antworten barg, und es hervorgeholt.
    Sie nickte und zeigte es ihm. Dabei konnte sie sehen, wie sich sein verbliebenes Auge in stummer Erkenntnis weitete und die Furchen auf seiner Stirn noch tiefer wurden.
    Ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte, stellten sich Bilder vor ihrem geistigen Auge ein. Manche davon kannte sie aus ihren Träumen, andere nicht. Aber allen schien gemein, dass sie durch die Worte ihres Meisters hervorgerufen worden waren.
    Sie sah brennende Häuser.
    Ein Dorf, das in Flammen stand.
    Menschen, die erschlagen vor ihren Hütten lagen.
    Und immer wieder sah sie einen Mann auf dem Boden liegen, den Bolzen einer Armbrust im Kopf. Ungezählte Male hatte sie dieses Bild im Traum gesehen, und es hatte ihr schreckliche Angst gemacht. Anfangs hatte sie geglaubt, dass der Grund für diese Angst Rowan wäre, dass er es sein könnte, der dort sterbend lag, und dass sie es verhindern könnte, wenn sie ihn verließ. Doch mehr und mehr wurde ihr klar, dass dies ein Irrtum gewesen war.
    Der Mann, der dort auf dem Waldboden lag, sich hilflos windend wie ein Käfer auf dem Rücken, war nicht Rowan. Es war der schwarze Ritter, der an jenem Tage nicht nur sein linkes Augenlicht, sondern beinahe auch sein Leben verloren hatte.
    Der Ritter mit dem Namen Kathan.
    Die Erkenntnis, dass sie den Mann kannte, sickerte in ihr Bewusstsein ein – und mit ihr kehrten all die Empfindungen zurück, die sie über die Jahre vergessen hatte.
    »Du bist es«, flüsterte sie mit fast versagender Stimme. Es kam ihr vor, als wäre eine Traumgestalt lebendig geworden. »Du hast mir dieses Pferd geschnitzt, vor langer Zeit.«
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein.«
    »Doch«, widersprach sie, »so ist es gewesen. Wölfe … Wölfe sind in unser Dorf gekommen. Und du warst einer von ihnen.«
    Kathan schüttelte weiter beharrlich den Kopf. »Das ist ein Spiel, nur ein verdammtes Spiel, das Mercadier mit mir treibt.«
    »Ich erinnere mich plötzlich wieder«, fuhr sie unbeirrt fort. »An so viele Dinge, an die Menschen im Dorf. An Hugh den Schmied, an die alte Flore und den kleinen Yon … und an Pater Edwin.«
    Er sagte nichts, sondern starrte sie nur noch an, seine faltige Miene war wie aus Stein gemeißelt.
    »Meine Eltern habe ich nie kennengelernt, aber Pater Edwin hat für mich gesorgt wie ein Vater.«
    »Nicht.« Kathan schüttelte noch immer den Kopf, doch seine Stimme klang nicht mehr trotzig und abweisend, sondern hatte einen flehenden Tonfall angenommen. »Nicht, ich bitte dich!«
    »Ich hatte von Wölfen geträumt, Nacht für Nacht … von Wölfen mit verschiedenfarbigen Augen. Ich erzählte Pater Edwin davon, und er sagte mir, dass ich keine Angst haben müsste. Doch die Wölfe kamen, in der Gestalt dreier Tempelritter. Das ganze Dorf war auf den Beinen, alle schrien wild durcheinander. Einige wollten fliehen, andere bleiben, um das Dorf mit ihrem Leben zu verteidigen.«
    Kathan holte tief

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