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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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du?«
    Rowan wusste nicht, ob er verstand. Ihm war nur klar, dass sie fliehen, dass sie die Bergfestung auf schnellstem Wege verlassen mussten, oder der Untergang der Keraiten würde auch ihr eigener sein. Er setzte sich wieder in Bewegung und zog Bruder Cuthbert mit, und schließlich folgte auch Cassandra, wenn auch mit zögernden Schritten und fast widerwillig.
    Sie folgten ihrem Führer in einen schmalen Gang, der steil in die Tiefe führte, geradewegs ins dunkle Herz des Berges – und von dort endlich nach draußen, in ein schmales Tal, das fernab vom Kampfgeschehen lag und von dichtem Wald umgeben war.
    Dort verbargen sie sich – und blickten nicht zurück.

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24
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    »Auf der Erde gibt es keine Stadt, in der wir bleiben können. Wir warten auf die Stadt, die kommen wird.«
    Hebräerbrief 13,14
    Königspalast von Jerusalem
18. Juli 1187
    Wie so viele Male zuvor saßen sie auf der Bank vor dem Fenster, doch wagten es die beiden Schwestern nicht, in den Innenhof hinabzublicken oder auch nur ein Wort zu sprechen. Einander bei den Händen haltend, starrten sie auf den Durchgang, lauschten gebannt auf die klirrenden Schritte, die sich näherten.
    Eine schlanke Gestalt war einen Augenblick lang durch den Vorhang zu erkennen, dann wurde dieser auch schon beiseitegeschlagen, und ein Mann trat ein. Es war Balian von Ibelin.
    Der Graf sah anders aus, als Sibylla ihn in Erinnerung hatte. Zwar trug er einen frischen Rock und hatte den Staub der Reise abgewaschen, aus seinen Zügen jedoch sprach unendliche Erschöpfung – und eine Traurigkeit, die Sibylla nie zuvor darin erblickt hatte.
    Die Königin schloss die Augen. Nach fast zwei Wochen der Unsicherheit und des Bangens würde sie nun endlich Gewissheit erlangen. Sie spürte, wie auch Isabela sich verkrampfte.
    Ihr war klar, dass der Thronsaal der angemessenere Ort für diese Begegnung gewesen wäre, doch seit ihr Gemahl nicht mehr in Jerusalem weilte, seit der Thron des Prinzgemahls leer war, erkannte sie erst, wie unendlich groß die Halle war – und wie schwer die Verantwortung, die auf dem Regenten lastete. Solange Guy auf dem Thron gesessen hatte, war es leicht gewesen, ihn zu kritisieren, in ihrem Sinne zu beeinflussen und in seinem Schatten eigenmächtige Entscheidungen zu treffen. Seit die Herrschaft jedoch auf Sibyllas eigenen Schultern ruhte, war alles sehr viel schwieriger geworden, und die Größe und Leere des Saales machten ihr dies zu jedem Augenblick bewusst. Viel lieber hielt sie sich hier auf, in den Räumlichkeiten, die ihr vertraut waren und die ihr Sicherheit und Zuflucht versprachen, auch wenn ihr klar war, dass sie sich damit selbst betrog.
    »Nun, edler Balian«, fragte sie, während sie die Augen weiter geschlossen hielt, »was habt Ihr uns zu berichten?«
    »Die Schlacht hat stattgefunden, meine Königin«, hörte sie den Grafen von Ibelin antworten. »In der Senke von Hattin ist unser Heer auf das von Saladin getroffen – und hat eine bittere Niederlage erlitten. Unsere Streiter wurden vernichtend geschlagen, die Verluste gehen in die Tausende.«
    Der Schrei, der sich Sibyllas Kehle entrang, hatte kaum noch etwas Menschliches. Blankes Entsetzen durchflutete sie und drohte ihren Verstand mit sich fortzureißen. Neben ihr sackte Isabela in sich zusammen.
    Das christliche Heer geschlagen!
    In den vergangenen Wochen hatte sie Zeit und Gelegenheit genug gehabt, sich auf schlechte Kunde vorzubereiten. Hätte es einen Sieg zu vermelden gegeben, wäre dies längst geschehen. Die lange Wartezeit hatte folglich nichts Gutes zu bedeuten gehabt. Dennoch hatte sie die Hoffnung nie ganz aufgegeben. Nun jedoch konnte sie sich nicht länger etwas vormachen.
    »Es war ein Hinterhalt«, fuhr Balian gesenkten Hauptes fort. Nie zuvor hatte Sibylla das Oberhaupt der mächtigen Ibelin so gebeugt, so geschlagen gesehen. »Die Sarazenen haben uns eingekreist und von allen Seiten angegriffen, ihre Reiterei zerschmetterte uns. Nur wenigen gelang es, aus der Umklammerung auszubrechen, unter ihnen mein treuer Gefährte Raynald von Sidon und ich selbst. Auf der Flucht vor Saladins Häschern wandten wir uns zunächst nach Tyros. Sobald wir es wagen konnten, kehrten wir jedoch nach Jerusalem zurück.«
    »Und … die anderen?«, fragte Isabela mit bebender Stimme. Da ihre Mutter Maria Komnena nach dem Tod ihres Gemahls Amalric die Frau Balians geworden war, waren sie und der Herr von Ibelin einander wohlvertraut. »Was ist mit unseren Männern? Bitte, Balian, sagt

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