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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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geht. Dies ist nicht euer Krieg, ihr habt es gehört.«
    »Aber Eurer auch nicht, Meister«, wandte Rowan ein.
    »Da gebe ich dir recht. Aber mit diesem elenden Pfeil im Körper …« Schmerz verzerrte sein Gesicht, als er sich ein wenig zu drehen versuchte, um den abgebrochenen Schaft zu betrachten. »Geht«, verlangte er, »lasst mich zurück. Ich würde euch nur aufhalten.«
    »Das werdet Ihr zweifellos.« Rowan nickte. »Aber das ist kein Grund, Euch hierzulassen.« Damit wollte er sich auch schon bücken, um seinen verwundeten Meister auf die Beine zu stellen, doch dieser wehrte kopfschüttelnd ab.
    »Nein, Junge! Bürde dir keine Last auf, die du nicht tragen kannst! Siehst du nicht, dass du dein Ziel fast erreicht hast?«
    »Welches Ziel?«
    »Die Freiheit, die du dir immer erträumt hast, sie ist zum Greifen nah! Ich bin die einzige Verbindung zu deiner Vergangenheit. Wenn ich nicht mehr bin, wird niemand mehr danach fragen. Niemand wird dich zwingen, in das Leben zurückzukehren, das du ohnehin nie wolltest, verstehst du das?«
    Rowan nickte.
    Einmal mehr hatte der alte Fuchs recht. Nur Bruder Cuthbert wusste, dass er Zisterzienser war. Kehrte er nicht nach Ascalon zurück, würde niemand nach ihm fragen oder gar nach ihm suchen, sondern man würde annehmen, dass er in den Wirren der Zeit verloren gegangen war. Entschloss er sich jedoch, seinen Meister zu retten, so würde sein Gewissen ihn beständig an die Eide erinnern, die er geleistet hatte, wenn auch unter Zwang.
    »Damit mögt Ihr recht haben«, räumte Rowan folglich ein, »aber diese Freiheit wäre zu einem zu hohen Preis erkauft.« Und noch ehe er es sich anders überlegen oder Bruder Cuthbert erneut widersprechen konnte, hatte er ihn schon an den Händen gefasst und so behutsam wie möglich auf die Beine gezogen.
    »Verdammt, Junge!«, protestierte der alte Mönch unter Schmerzen. »Was tust du?«
    »Zehn pater noster , noch vor dem Non«, beschied Rowan ihm trocken.
    »Wo-wofür?«
    »Für die Blasphemie, die Euch so leichtfertig über die Lippen kam«, erklärte Rowan und legte sich den rechten Arm seines Meisters um die Schulter, während Cassandra ihn von der anderen Seite stützte. »Wird es gehen?«
    Bruder Cuthbert erwiderte nichts, sondern nickte nur. Entweder hatte er seinen Widerstand aufgegeben, oder der Schmerz, den ihm die Pfeilwunde verursachte, war so stark, dass es ihm die Sprache raubte. Also setzten sie sich in Bewegung, einem jungen Burschen hinterher, den Fürst Ungh-Khan ihnen als Führer zugeteilt hatte, und quer durch die Torkammer, die vor hektischer Betriebsamkeit fast zu bersten schien. Zimmerleute waren dabei, das Tor, gegen das der Feind inzwischen mit einer Ramme anrannte, mit immer neuen Balken und Streben zu verstärken, während Bogenschützen unablässig Pfeile aus den Schießöffnungen schickten. Überall lagen Verwundete, schrien ihren Schmerz und ihre Todesangst laut hinaus, und über allem hing der beißende Gestank von Schweiß, Urin und geronnenem Blut.
    Rowan war froh, als sie die Stufen hinaufstiegen und die Torkammer hinter sich ließen. Mit einer Fackel in der Hand, die er aus einer Wandhalterung nahm, führte der Bursche sie in einen Nebengang. Sie passierten mehrere der aus Holz und Natursteinen errichteten Hurden, die spitzen Erkern gleich aus der Felswand ragten und von denen die Keraiten Steine und brennendes Öl auf die Angreifer schütteten, während sie selbst dem Beschuss durch Bogen und Armbrüste ausgesetzt waren. Brandgeruch erfüllte die stickige Luft, entsetzliche Schreie drangen aus der Tiefe, und für einen Moment erheischten Rowan und seine Gefährten einen Blick auf den Innenhof, auf die unzähligen Kämpfer, die sich dort drängten, auf die Mauern und Türme des Vorhofs, die von ihnen geschleift wurden, und auf einen Himmel, an dem feurige Brandgeschosse ihre Bahn zogen, dunkle Schweife des Todes hinter sich herziehend.
    Rowan wollte weiter, doch Cassandra regte sich nicht. Wie angewurzelt war sie stehen geblieben, starrte auf das apokalyptisch anmutende Schauspiel.
    »Feuer am Himmel«, flüsterte sie, »Türme und Mauern, die einstürzen. Genau so habe ich es in meinen Träumen gesehen. Genau so.«
    »Cassandra«, ermahnte sie Rowan. »Wir müssen weiter!«
    Sie riss sich von dem Anblick los und schaute Rowan an. »Verstehst du, was das bedeutet? Die Keraiten werden untergehen, und ich selbst habe dazu beigetragen! Ich selbst habe das Schicksal erfüllt! Ich selbst, verstehst

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