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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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es uns! Was ist mit meinem Gemahl?«
    »Nach allem, was ich erfahren habe, ist er wohlauf«, entgegnete Balian. »Offenbar hat sich Saladin im Augenblick des Triumphs als großmütiger Sieger erwiesen. Er hat das Leben der meisten Edlen geschont, darunter auch das Eueres Gemahls Humphrey und Graf Raymonds, dem Saladin freies Geleit zu seinem Weib nach Tiberias zugesichert hat. Auch das Leben Gérard de Rideforts wurde geschont, obwohl Saladin sämtliche Angehörigen des Templer- und des Johanniterordens hat hinrichten lassen. Vermutlich«, fügte der Graf von Ibelin ein wenig leiser hinzu, »wollte er Ridefort mit der Schande leben lassen, der einzige überlebende Ordensritter zu sein.«
    »Und – Guy?«, fragte Sibylla leise, fast unhörbar. Was Balian berichtete, schien nur wie durch dichte Schleier zu ihr zu dringen. Sie hatte das Gefühl, in ihrer eigenen Zeit zu leben, ihrer eigenen Wirklichkeit.
    »Auch der König lebt«, lautete die unerwartete Antwort.
    »Er – lebt?«
    »Er befindet sich in Gefangenschaft, jedoch hat Saladin auch ihm Schonung gewährt und ihm Respekt und Freundlichkeit erwiesen. Wie es heißt, hat er den König nach seiner Gefangennahme in sein Zelt führen lassen und ihm gekühltes Wasser zu trinken gegeben, auf dass er sich erfrische. Lediglich Raynald de Chatillon hat er getötet – wie zu hören ist, hat der Sultan ihn eigenhändig enthauptet.«
    »Enthauptet«, wiederholte Sibylla tonlos. Sie musste mehrmals hintereinander schlucken, um den Würgereflex niederzukämpfen. Die schreckliche Vorstellung von Raynalds abgetrenntem Haupt, wie es feist und blutbesudelt auf einem Sarazenenspeer steckte, verursachte ihr Übelkeit. Das also war aus der Zuversicht geworden, die der Graf von Antiochia stets verbreitet hatte, das aus seinen großen Worten …
    »Und – nun?«, fragte sie leise.
    »Seither sind zwei Wochen verstrichen, Herrin«, entgegnete Balian, Besorgnis in den müden Zügen. »Saladin hat sich der Küste zugewandt und bedroht die dortigen Grafschaften, die ohne die Hilfe von Jerusalem kaum hoffen können, dem Ansturm der Sarazenen zu widerstehen. Da Saladin denen, die sich kampflos ergeben, Schonung und freies Geleit verspricht, haben ihm bereits einige Städte die Tore geöffnet. Vor wenigen Tagen erst ist Acre gefallen, einzig Jaffa und Tyros leisten noch Widerstand, jedoch ist der Ausgang ungewiss.«
    »Acre. Jaffa. Tyros.« Tonlos wiederholte Sibylla die Namen, die sich in ihren Ohren plötzlich wie Wörter einer längst vergessenen Sprache anhörten, einer Zauberformel, die ihre Macht verloren hatte.
    »Hat Saladin erst die Küstenstädte in seinem Besitz, so wird er sich gegen Jerusalem wenden«, fuhr Balian unbarmherzig fort.
    »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
    »Schwer zu sagen.« Der Herr von Ibelin schüttelte das gebeugte Haupt. »Ein Monat, vielleicht etwas mehr.«
    »Dann lasst uns die Zeit nutzen, um ein Heer aufzustellen«, schlug Isabela vor. »Die Heilige Stadt muss verteidigt werden!«
    »Darin stimme ich zu«, pflichtete Balian ihr bei, »jedoch gibt es kein Heer mehr, das wir aufstellen könnten. So viele Kämpfer sind bei Hattin gefallen, unzählige Edle befinden sich in Saladins Gewalt, selbst der mächtige Templerorden ist geschwächt. Und jene Grafschaften, die noch Widerstand leisten, brauchen selbst jeden einzelnen Mann. Wenn wir uns verteidigen wollen, werden wir es auf eigene Faust tun müssen.«
    »Auf eigene Faust?« Sibylla starrte ihn verständnislos an. »Was meint Ihr? Abgesehen von der Palastwache und den wenigen Rittern, die mein Gemahl zu unserem Schutz zurückgelassen hat, gibt es in Jerusalem keine Kämpfer mehr.«
    »Indem wir jeden Mann und jede Frau, jeden Handwerker und jeden Bettler, jede Magd und jede Dirne in der Stadt bewaffnen«, gab Balian zur Antwort, »und zwar unabhängig von ihrem Glauben, ihrer Hautfarbe oder ihrer Überzeugung. Die Gnade, die Saladin anderen Städten gegenüber gezeigt hat, wird er Jerusalem nicht erweisen. Er will Vergeltung, will Rache nehmen für das Blutbad, das unsere Ahnen bei der Eroberung der Stadt angerichtet haben, und er wird nicht eher ruhen, bis jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt erschlagen sind.«
    »Und Ihr glaubt«, fragte Sibylla in einem Anflug vager Hoffnung, »gemeinsam könnten wir seinem Zorn widerstehen?«
    »Wohl kaum.« Der Herr von Ibelin zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Aber wir können ihm klarmachen, dass er die Heilige Stadt nicht ohne Verluste bekommen

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