Das verschollene Reich
Prolog mit Blut geschrieben wurde, nun zu Ende ist?« Der alte Benediktiner schüttelte den Kopf. »Nein, Sohn. Schätze, die durch Unrecht erworben werden, sind nutzlos, Spruch des Herrn. Das christliche Jerusalem trug von dem Tag an die Saat des Untergangs in sich, da es den Heiden mit Feuer und Schwert entrissen wurde. Was hingegen bleibt, ist das hohe Ideal, die Vorstellung einer besseren Welt. Sie kann uns niemand nehmen.«
Rowan musste unwillkürlich lächeln, als er das jungenhafte Grinsen in Bruder Cuthberts Zügen sah. Noch vor wenigen Monaten hätte er nicht geglaubt, es jemals wieder zu erblicken.
Noch am Tag ihrer Flucht aus der Felsenburg hatte er mit einer glühenden Messerklinge die Pfeilspitze aus Cuthberts Rücken entfernt, doch schon bald darauf hatte sich die Wunde entzündet, und heftiges Fieber hatte den alten Mönch befallen. In einer Höhle hatten sie Zuflucht gesucht, und wäre es nicht um Cassandras Wissen über heilkräftige Kräuter gewesen, so hätte Bruder Cuthbert jene Tage wohl nicht überlebt. Etwas mehr als drei Wochen lang währte der Kampf gegen das Fieber, den Cassandra mit Tinkturen aus Kräutern bestritt, die Rowan für sie sammelte, zusammen mit Wurzeln und Beeren, von denen sie sich eher schlecht als recht ernährten. Doch an einem Morgen, den Rowan niemals vergessen würde – er hatte die ganze Nacht ins Gebet versunken am Lager seines Meisters verbracht –, hatte Bruder Cuthbert die Augen aufgeschlagen, und das Fieber war verschwunden.
Natürlich war der alte Benediktiner noch schwach gewesen und unfähig, die Reise mit eigener Kraft fortzusetzen. Auf einer behelfsmäßigen Bahre, die er aus Ästen baute, hatte Rowan ihn zu Tal geschleppt, wo sie für einige Wochen in einem Dorf Unterschlupf fanden. Erst nachdem Bruder Cuthbert wieder halbwegs zu Kräften gekommen war, setzten sie ihre Reise fort. Aus Sorge, sarazenischen Kriegern zu begegnen, wandten sie sich nicht sofort gen Westen, sondern folgten einem Zufluss des Tigris nach Süden und erreichten schließlich im September Bagdad. Hier erfuhren sie auch von der Einnahme Jerusalems durch Saladins Truppen.
Sich als Reisende ausgebend, die auf eine Karawanenpassage nach Westen warteten, blieben sie in Bagdad, wo sich Bruder Cuthbert vollends von den Folgen seiner Verwundung erholte. Anfang Dezember schlossen sie sich einer Karawane an, die auf dem Weg nach Damaskus war. Da sie kein Geld hatten, boten sie sich dem karwan bashî kurzerhand als Übersetzer an, was sich für die mit der Karawane reisenden Händler auf dem Basar von Abu Kemal als großer Vorteil erwies. Die Esel, die Rowan und seine Gefährten schließlich den weiten Weg von Abu Kemal bis ins Gelobte Land trugen, waren das Geschenk eines dankbaren jüdischen Kaufmanns. So waren sie auf annähernd demselben Wege, auf dem sie aufgebrochen waren, wieder nach Jerusalem zurückgekehrt.
Doch nicht nur die Heilige Stadt hatte sich verändert. Auch Rowan war nicht mehr der, den Bruder Cuthbert aus dem carcer des Klosters von Ascalon geholt hatte, wie auch Cassandra eine andere geworden war. Als Spionin des Feindes hatte sie Jerusalem verlassen, von einem fremden Willen gelenkt, ohne Wissen über ihre Herkunft. Nun war sie frei, und ihre Vergangenheit lag nicht länger wie ein dunkler Schatten über ihr.
Einzig Bruder Cuthbert schien noch immer derselbe zu sein, allen Fährnissen der Reise, allen Offenbarungen und seiner schweren Verwundung zum Trotz.
»Und?«, wandte sich Cassandra an ihn. »Werdet Ihr nach Tripolis gehen, um der Königin zu berichten?«
»Nein«, entgegnete der alte Fuchs ohne Zögern, als hätte er schon längst darüber nachgedacht. »Ich werde Sibylla nicht sagen, dass sie getäuscht wurde und wie zuvor ihr Vater einem Missverständnis aufgesessen ist.«
»Nein?« Rowan hob die Brauen. »Aber was ist mit der Wahrheit? Seid Ihr nicht aufgebrochen, um sie zu finden?«
»Das bin ich, Junge. Und soweit es mich betrifft, habe ich sie gefunden. Die Königin jedoch war nie an der Wahrheit interessiert, sondern an einer Vorstellung, an die sie sich klammerte, deshalb fühle ich mich ihr gegenüber nicht verpflichtet. Diejenigen, die wollen, sollen auch weiterhin glauben dürfen, dass jenseits des Orients ein mächtiger König residiert, über dessen prächtigen Palästen das Banner der Christenheit
weht.«
Rowan nickte nachdenklich. Obwohl Bruder Cuthbert es ohne jeden Spott sagte, klang es doch wie bitterer Hohn angesichts der tatsächlichen
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