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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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in den Rücken traf. Der alte Mönch, der eben dabei gewesen war, sich zu erheben, brach wieder in die Knie.
    Rowan handelte.
    Noch ehe er recht begriff, was er tat, zwängte auch er sich durch den Torspalt nach draußen, eilte zu seinem Meister, der mit vor Schmerz verzerrter Miene auf dem Boden kauerte.
    »Nein, Junge, nicht …!«, rief er ihm entgegen, aber Rowan war nicht mehr aufzuhalten. Schon hatte er den verletzten Jungen über der Schulter, griff nach Bruder Cuthbert und zog auch ihn zu sich hoch. Die Schmerzen, die der alte Benediktiner litt, mussten entsetzlich sein, denn er schrie aus Leibeskräften. Trotzdem gelang es ihm, sich aufzurichten, und gemeinsam schleppten sie sich der Pforte entgegen, die nur noch eine Handbreit offen stand – als sich plötzlich hinter ihnen unbändiger Lärm erhob. Unter heiserem Geschrei stürmte der Feind den Innenhof. Und das Tor schloss sich vollends.

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23
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    »Und sie zogen herauf auf die Breite der Erde und umringten das Lager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer vom hohen Himmel und verzehrte sie.«
    Offenbarung, 20
    »Verdammt!«
    Rowan langte einen Schritt zu spät an der Pforte an. Heftig trat er mit dem Fuß gegen das Holz, doch die mächtigen Türflügel gaben nicht nach. Gehetzt fuhr er herum, sah sich der Übermacht Hunderter Sarazenen gegenüber, die ihre Schwerter schwenkten und in deren Augen wilde Kampfeslust loderte. Meister Cuthbert, der neben ihm am Tor lehnte, leichenblass und schwer atmend, sandte ihm einen Blick zu, der voller Dankbarkeit, aber auch voller Mitleid war, während der Junge über seiner Schulter noch immer schrie.
    So, dachte Rowan in einem Anflug von Bitterkeit, endet es also. Er schloss die Augen, um sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten – als die Pforte in seinem Rücken sich plötzlich bewegte!
    Noch einmal öffnete sie sich einen Spalt, helfende Hände reckten sich ihm und Bruder Cuthbert entgegen und zerrten sie ins schützende Halbdunkel der Torkammer, dann fielen die Türflügel auch schon wieder zu, und es krachte dumpf, als der schwere Riegel vorgeschoben wurde.
    Irgendjemand nahm Rowan den verletzten Jungen ab. Erst jetzt merkte er, wie sein Pulsschlag raste. Dunkle Flecke tanzten vor seinen Augen. Am Ende der langen Röhre, durch die er zu blicken schien, sah er Cassandra. Sie kam auf ihn zu, flog in seine Arme, und sie hielten einander fest, als könnten sie dem Sturm, der sie alle erfassen und davonzuwehen drohte, auf diese Weise entgehen.
    Schon im nächsten Moment umfing sie wieder die Wirklichkeit des Krieges. Die Schreie der Verwundeten, denen es gelungen war, sich ins Innere der Burg zu flüchten, die hektisch gerufenen Befehle der Offiziere, das dumpfe Dröhnen, als die Angreifer gegen die geschlossene Pforte anrannten. Man würde versuchen, sie abzuwehren, würde sie von den Hurden aus mit Pfeilen überziehen, heißes Wasser und siedendes Öl auf sie schütten, auch wenn es fraglich war, ob es ihren Ansturm tatsächlich aufhalten würde.
    Rowan wandte sich Bruder Cuthbert zu, der sich in eine Ecke geschleppt hatte und an der kahlen Felswand niedergesunken war. Den Pfeil hatte er abgebrochen, die mit Widerhaken versehene Spitze steckte jedoch noch in der Wunde, sodass sich der Blutverlust in Grenzen hielt. Die Schmerzen mussten höllisch sein. Nie zuvor hatte Rowan solche Todespein in den Zügen des alten Mönchs gesehen.
    »Meister! Was habt Ihr nur getan?«
    Er fiel bei ihm nieder, ergriff seine zitternde Hand. Cuthberts Blick suchte ihn, aber es dauerte einen Moment, bis die wässrigen Augen des alten Benediktiners ihn fanden.
    »Was der Herr mir aufgetragen hat«, stieß er keuchend hervor. »Mich um verlorene Schafe kümmern.«
    »So wie Ihr Euch um mich gekümmert habt?«
    »Bei dir habe ich versagt.« Cuthbert verstummte für einen Augenblick, als heftiger Schmerz ihn durchzuckte. »Ich hätte den Auftrag der Königin niemals annehmen dürfen, hätte die Täuschung durchschauen müssen.«
    »Niemand ist vollkommen, Meister«, widersprach Rowan kopfschüttelnd. »Auch Ihr nicht.«
    »Aber ich hätte es sehen müssen, die Zeichen waren da.«
    »Ein weiser Mann brachte mir einst bei, dass Zeichen meist nur das sind, was Menschen daraus machen«, konterte Rowan und lächelte matt – und Bruder Cuthbert, seinem geschwächten Zustand und aller Pein zum Trotz, erwiderte das Lächeln.
    »Nie hatte ich einen gelehrigeren Schüler«, flüsterte er.
    »Und ich nie einen weiseren

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