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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Cuthbert einige Worte auf Arabisch, und Cassandra antwortete.
    »Was sagt sie?«, wollte Rowan wissen.
    »Dass sie weder ihren Namen kennt noch weiß, wer sie ist«, erwiderte die Königin anstelle seines Meisters und bewies damit, dass sie ebenfalls des Arabischen mächtig war.
    Cuthbert stellte eine weitere Frage, und Cassandra antwortete erneut, diesmal sehr viel länger.
    Rowan war auf eigentümliche Weise berührt vom Klang ihrer Stimme, die anmutig und melodisch klang. Die kehligen Laute der Heidensprache, die er bislang stets als fremd und bedrohlich empfunden hatte, hörten sich aus ihrem Munde an wie rätselhafter Gesang, und er ertappte sich dabei, dass er Mitleid empfand. Wie, so fragte er sich, mochte es sich anfühlen, ganz allein zu sein, fern der Heimat, und noch nicht einmal zu wissen, wer man war?
    Der Gedanke hatte etwas Erschreckendes, selbst für Rowan, der die meiste Zeit seines Lebens allein gewesen war, und er sorgte dafür, dass er innerlich für Cassandra Partei ergriff. Etwas in ihm verlangte danach, diese junge Frau, die so verloren und verletzlich wirkte, zu beschützen.
    »Sie kann sich nicht erinnern, wie sie in die Gewalt jener Männer geriet, die sie gefangen nahmen«, übersetzte Cuthbert Cassandras Antwort, »aber sie sagt, dass sie immerzu von einer Festung hoch in den Bergen träume, über der das Banner des Kreuzes weht. Sie hat auch einen Pass beschrieben sowie eine Furt, die über einen breiten Fluss führt. Außerdem einen Felsen, der die Form eines Löwen hat.«
    »Und?«, verlangte Sibylla zu wissen. »Was ist Euer Eindruck?«
    »Um mir ein abschließendes Urteil zu bilden, ist es noch zu früh, meine Königin«, wehrte der alte Mönch ab. »Ich muss mich noch eingehender mit ihr unterhalten.«
    »Das steht Euch frei. Ihr dürft Cassandra befragen, wie es Euch beliebt. Eines jedoch solltet Ihr bedenken.«
    »Nämlich, meine Königin?«
    »Dass es möglicherweise einen Grund dafür gibt, dass Cassandra ausgerechnet in diesen Tagen gefunden und hierher gebracht wurde«, entgegnete Sibylla mit fester, fast feierlicher Stimme.
    »Ihr sprecht von der Macht der Vorsehung?«
    »Es kann kein Zufall sein, dass uns gerade in den Tagen wachsender Bedrohung ein solches Geschenk in die Hände fällt, Bruder Cuthbert, und noch dazu auf solch wundersame Weise. Pflegt sich der Herr nicht stets in den Geringsten von uns zu offenbaren?«
    »Das ist wahr«, musste der alte Mönch zugeben.
    »Ich bin überzeugt davon, dass Cassandra zu uns geschickt wurde, um uns den Weg zum Priesterkönig zu weisen und ihn als unseren Freund und Verbündeten zu gewinnen. Vielleicht ist eine Sklavin der Schlüssel zu unser aller Rettung.«
    Eine endlos scheinende Weile blickte Cuthbert die Monarchin an. Sein Augenspiel verriet Zweifel, aber er äußerte sie nicht. »Vielleicht, meine Königin«, stimmte er stattdessen mit einem matten Lächeln zu. »Vielleicht.«

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10
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    »Ich blicke zur Rechten und schaue,
aber niemand ist, der meiner achtet.
Verloren ist für mich die Zuflucht,
niemand fragt nach meinem Leben.«
    Psalm 142,5
    Nordfrankreich
22. November 1173
    Kathan war übel. Die Schreie der Sterbenden, der Brandgeruch, der in der Luft hing und in den sich der grässliche Gestank von Blut und Tod mischte, all das erinnerte ihn an Dinge, die er in seinem Inneren begraben und verdrängt hatte – doch mit unwiderstehlicher Macht hatten sie ihn wieder eingeholt.
    Wie in Trance ging er über den Dorfplatz, vorbei an den Bauern, ihren Frauen und Kindern, die dort erschlagen lagen und deren dunkelroter Lebenssaft im Morast gerann. Das Schwert in seiner Rechten schien unendlich schwer zu wiegen, ebenso wie das Rüstzeug, das an ihm zog und zerrte, als wollte es ihn ebenfalls auf den blutgetränkten Boden ziehen, damit er dort liegen blieb und für seine Untaten büßte.
    »Kathan! Hier ist nichts! Sieh dort drüben nach!«
    Wie aus weiter Ferne drang die Stimme Mercadiers an sein Ohr, der die Hütten auf der anderen Seite des Dorfplatzes durchsuchte, offenbar ohne Erfolg. Irgendwo musste die junge Frau sich verbergen, nach der sie schon so lange suchten, zumindest hoffte Kathan das inständig. Andernfalls würde das Blut all dieser Unschuldigen vergeblich geflossen sein.
    Durch Schwaden von Rauch wankte er auf die letzte der Hütten zu, die einzige auf seiner Seite, die noch nicht in Flammen stand. Einem Bluthund gleich streifte Gaumardas umher, seine besudelte Klinge in der einen, eine brennende Fackel in

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