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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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tun?«
    »Während eines Besuchs am kaiserlichen Hof von Byzanz gelangte Sibyllas Vater Amalric in den Besitz einer Abschrift des Briefes des Johannes Presbyter. Da der Verfasser unter anderem von einer wundersamen Quelle schrieb, deren Wasser in der Lage sei, jedwedes Gebrechen zu heilen, verfiel Amalric auf den Gedanken, dass sein vom Aussatz befallener Sohn Baldwin geheilt und die Thronfolge von Jerusalem auf diese Weise gesichert werden könnte. Ich war derjenige, der sich auf die Reise begeben und nach jener Quelle suchen sollte.«
    »Was Ihr aber nicht getan habt«, schloss Rowan aus dem wenigen, was er von dem Gespräch zwischen Cuthbert und Königin Sibylla verstanden hatte.
    »Nein«, stimmte sein Meister zu. »Ich habe den Inhalt des Briefes nach bestem Wissen geprüft, aber die Ortsangaben darin sind so vage, dass eine Suche von vornherein aussichtslos erschien. Zudem ist in jenem Schreiben von Flüssen die Rede, die Edelsteine statt Kieseln führen, von Palästen mit Ziegelwerk aus purem Gold und von Kreaturen, die ich eher dem Reich der Fantasie als dem eines irdischen Herrschers zurechnen würde.«
    »Was für Kreaturen?«, wollte Rowan wissen, aber Cuthbert blieb eine Antwort schuldig – sie hatten das Ende des Korridors erreicht.
    Eine eisenbeschlagene Tür versperrte einen niedrigen Durchgang. Nachdem eine der Wachen sie geräuschvoll entriegelt hatte, schwang sie auf und gab den Blick auf ein von Fackelschein beleuchtetes Gewölbe frei. Zwei der Leibwächter gingen hinein, gefolgt von ihrer Königin. Zwei weitere Wachen gaben ihr Geleit, dann durften auch die Mönche eintreten.
    Die Kammer war nicht sehr groß, jedoch so hoch, dass man aufrecht darin stehen konnte. Fenster gab es nicht. Vermutlich, so nahm Rowan an, handelte es sich um einen Lagerraum. Umso verblüffter war er, als er feststellte, was darin aufbewahrt wurde.
    Es war eine junge Frau.
    Einsam stand sie in einer Ecke der Kammer, unbewegt wie eine Statue. Offenbar sollte sie vor der Welt verborgen werden, vor jenen Augen und Ohren, die die Wände im Königspalast angeblich hatten.
    Rowan konnte nicht anders, als vom Anblick der jungen Frau gefangen zu sein. Rotes, wild gelocktes Haar umrahmte ein engelsgleiches, von der Sonne gebräuntes Gesicht. Dunkle Augen, deren tatsächliche Farbe im Fackelschein nicht auszumachen war, blickten den Besuchern gefasst entgegen. Es war unmöglich, darin zu lesen, was im Inneren der Frau vor sich ging. Rowan schätzte, dass sie in seinem Alter war, aber etwas an ihrer Haltung und an der Art, wie sie ihn und die anderen ansah, gab ihm dennoch das Gefühl, ein unreifer Knabe zu sein.
    Sie trug schlichte orientalische Kleidung, allerdings keinen Schleier, was vermuten ließ, dass sie keine Tochter Allahs war. Dennoch wirkte ihre Erscheinung auf Rowan ebenso fremdartig wie geheimnisvoll, und sie weckte Gefühle in ihm, von denen er wusste, dass sie ihm verboten waren. Er zwang sich, seinen Blick von ihr loszureißen, und wandte sich Meister Cuthbert zu, der jedoch nicht weniger beeindruckt schien. Etwas an dieser Frau, von der sie noch nicht einmal den Namen wussten, war auf eine Weise einnehmend, dass es selbst den alten Mönch in seinen Bann zu schlagen schien.
    Rätselhaft.
    Geheimnisvoll.
    Gefährlich …
    »Wie ich sehen kann«, stellte Königin Sibylla mit einer Mischung aus Genugtuung und – so kam es Rowan vor – leisem Spott fest, »sind selbst Eure Augen irdischer Schönheit nicht verschlossen.«
    »Warum habt Ihr uns hierher geführt, Herrin?«, erkundigte sich Cuthbert. Wenn er beschämt war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Sicher nicht, um unsere Augen an vergänglichen Freuden zu weiden.«
    »Nein«, gestand Sibylla. Sie näherte sich der Fremden und strich ihr sanft, fast liebkosend über das kupferfarbene Haar. Die beiden Frauen standen in einem eigentümlichen Gegensatz zueinander. Beide waren von bestechender Schönheit – die Königin auf eine beherrschte, berechnend wirkende Weise, die durch ihre Kleidung, durch das Geschmeide, das sie trug, und die Farbe in ihrem Gesicht noch unterstrichen wurde; die Fremde auf eine natürliche, herbe Art, auf die das Wort sündig zuzutreffen schien. »Ich habe Euch hierher geführt, Bruder Cuthbert, um Euch diese junge Frau vorzustellen, der ich den Namen ›Cassandra‹ gegeben habe.«
    »Ihr habt ihr diesen Namen gegeben?« Cuthbert hob eine Braue.
    »In der Tat«, bestätigte Sibylla, »denn ihren tatsächlichen Namen kennt sie nicht.

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