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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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und die drohenden Gefahren zu erkennen – und ich spreche nicht von denen, die womöglich am Wegesrand lauern.«
    »Was für Gefahren meint Ihr dann? Glaubt Ihr denn nicht, dass Euch die Kraft der Vorsehung leitet?«
    Der alte Ordensmann lächelte. »›Den Weg der Wahrheit habe ich gewählt‹, heißt es im hundertneunzehnten Psalm, ›nach deiner Ordnung verlangt es mich.‹ Wenn du mich also fragst, Junge, ob ich glaube, dass diese Welt dem Plan und Walten des Allmächtigen unterworfen ist, so stimme ich ohne Zögern zu – allerdings bin ich nicht eitel genug, um anzunehmen, dass ausgerechnet ich …«
    Er verstummte, als plötzlich an die Tür ihres Gemachs geklopft wurde. »Geh und öffne«, forderte er Rowan auf.
    Rowan tat, was von ihm verlangt wurde, in der Erwartung, einen Diener oder einen Boten der Königin vor der Tür anzutreffen.
    Er irrte sich.
    Es war eine junge Frau.
    Sie trug vornehme Kleidung, die aus einem weiten, auf orientalische Art drapierten Obergewand sowie einem seidenen Kopftuch bestand, das ihr Haupt verschleierte und nur die Augenpartie frei ließ.
    »Ich wünsche Bruder Cuthbert zu sprechen«, sagte sie leise und mit derartiger Bestimmtheit, dass Rowan nicht anders konnte, als sie einzulassen.
    Sie trat rasch ein wie jemand, der nicht gesehen werden wollte, und forderte Rowan mit einem Blick auf, die Tür zu schließen. Erst dann löste sie den Schal von ihrem Haupt und gab sich zu erkennen.
    Die Besucherin war noch jung, vielleicht sechzehn Winter alt. Schwarzes, auf kunstvolle Weise geflochtenes Haar umgab ihr blasses, vornehm wirkendes Gesicht, dessen hohe Wangenknochen und markante Nase ein griechisches Erbe vermuten ließen. Die tiefblauen Augen, die dazu nicht recht zu passen schienen, weckten in Rowan jedoch eine unbestimmte Erinnerung.
    »Seid gegrüßt, Bruder Cuthbert«, sagte sie und beugte das Haupt.
    »Mein Kind«, entgegnete der Mönch, der der Besucherin verwundert entgegenblickte, »sollte ich Euch kennen?«
    »Nein, Bruder«, versicherte sie. »Als Ihr zuletzt in Jerusalem wart, bin ich noch ein kleines Mädchen gewesen. Ich bin Isabela, die Schwester der Königin.«

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12
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    »Schneller als Panther sind seine Rosse,
und seine Reiter grimmiger als Wölfe am Abend.
Von fern her kommen sie geflogen
wie der Raubvogel, der zum Fraße eilt.«
    Habakuk, 1,8
    Nordfrankreich
24. November 1173
    Zwei Tage lag der Angriff auf das Dorf zurück.
    Zwei Tage, die sie in banger Ungewissheit verbracht hatte.
    In klirrender Kälte.
    Und in Todesangst.
    Noch immer sah sie leblose Körper vor sich, wenn sie die Augen schloss, brannte der beißende Gestank von Blut und Rauch in ihrer Nase. Immerzu dachte sie an jene, die zurückgeblieben waren, an Pater Edwin, an Hugh, den Schmied, an die alte Flore und den kleinen Yon, und sie hoffte, dass sie jeden Augenblick erwachen und einen von ihnen vor sich sehen würde, dass sich alles, was sie erlebt und gefühlt hatte, als einer jener Träume herausstellen würde, die sie so häufig hatte.
    Aber dies war kein Traum.
    Drei berittene Krieger waren mit furchtbarer Gewalt über das Dorf hergefallen, hatten die Häuser niedergebrannt und alle Menschen dort getötet. Warum nur? Warum?
    Pater Edwin hatte ihr gesagt, dass eines Tages vielleicht Fremde ins Dorf kommen und versuchen würden, sie fortzuholen. Er hatte auch gesagt, dass er alles tun würde, um dies zu verhindern, dass er notfalls bis zum letzten Atemzug für sie kämpfen wollte. Das hatte er getan, genau wie alle anderen.
    Nun waren sie tot.
    Niedergemetzelt.
    Verstümmelt.
    Weil sie mich beschützen wollten!
    Der Gedanke entsetzte sie. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war verstummt, brachte nicht mehr als wimmernde Laute zustande, über deren elenden, entmenschlichten Klang sie selbst erschrak. Ein weiterer ihrer Träume hatte sich bewahrheitet, wenn auch anders als gedacht.
    Wie lange der Ritt durch den Wald gedauert hatte, wusste sie später nicht mehr zu sagen. Irgendwann war die Nacht hereingebrochen, und ihre Häscher hatten ein Lager aufgeschlagen, ein Feuer entfacht und sie gefesselt davorgesetzt. Die Flammen schützten vor der Kälte der Nacht, aber sie boten keine Wärme, denn in der züngelnden Feuersbrunst sah das Mädchen die brennenden Häuser des Dorfes und hörte die grässlichen Schreie der Sterbenden.
    Und ich trage Schuld daran.
    An diesem Abend nahmen ihre Entführer ihre eisernen Helme und Kapuzen zum ersten Mal ab, doch die Erkenntnis, dass der gestrenge

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