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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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mich, Junge, dass dein Studium der Heiligen Schrift offenbar nicht fruchtlos gewesen ist. Aber diese Begebenheiten liegen lange zurück, und ich bin nicht eitel genug, um zu denken, dass sie sich in unserer Zeit wiederholen könnten. Wir sollten zunächst alle irdischen Möglichkeiten ausschließen, ehe wir anfangen, an Wunder zu glauben.«
    »Ich verstehe.« Rowan biss sich auf die Lippen. »Und wie wollt Ihr das bewerkstelligen?«
    »Nun, da wir im Augenblick nicht überprüfen können, ob Cassandras Schilderungen der Wahrheit entsprechen, müssen wir die Antwort auf unsere Fragen wohl hierin suchen.« Er zog ein längliches, aus Olivenholz gefertigtes Kästchen aus dem Ärmel seines Habits, wie es zur Aufbewahrung von Schreibzeug benutzt wurde. Als er es öffnete, kam darin jedoch eine ganz besondere Feder zum Vorschein.
    »Die goldene Feder!«, rief er verwundert aus. »Woher …?«
    »Ich habe Königin Sibylla gebeten, sie mir zur Untersuchung zu überlassen«, erwiderte Cuthbert lächelnd. »Allerdings wollen wir vorerst nur von einer gold farbenen Feder sprechen. Alles andere erschiene mir im Augenblick doch sehr übereilt.«
    Rowan schaute seinen Meister fragend an. »Aber der Brief …«
    Cuthbert seufzte. »Sich im Zirkel des eigenen Trugschlusses zu bewegen bringt denjenigen, der nach Erkenntnis sucht, nicht weiter. In der Überlieferung heißt es auch, dass der Vogel Phönix von Zeit zu Zeit in Flammen aufgeht und aus der eigenen Asche neu geboren wird. Wird das durch die Existenz der Feder ebenfalls bewiesen? Wir sollten versuchen, uns ein unvoreingenommenes Bild zu machen.«
    »Und wie stellen wir das an?«
    Wieder lächelte Bruder Cuthbert. »Indem wir die Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis einsetzen und die Mittel der al-hîmiyâ nutzen, um festzustellen, woraus diese Feder besteht.«
    »Der … was?«, fragte Rowan.
    »Der al-hîmiyâ «, wiederholte der alte Mönch. »Dabei handelt es sich um eine Kunst, die schon im alten Ägypten betrieben wurde und die durch die Überlieferung arabischer Gelehrter die Zeit überdauert hat.«
    »Eine … dunkle Kunst?«, fragte Rowan vorsichtig. Ein eisiger Schauder rann seinen Rücken hinab, und er bekreuzigte sich in einer anerzogenen Reaktion – worauf sein Meister in schallendes Gelächter ausbrach. »Was ist so komisch?«, wollte Rowan verärgert wissen.
    »Bitte verzeih«, bat Bruder Cuthbert, »du kannst nichts dafür. Vermutlich hat man dir beigebracht, all das zu fürchten, wovon du nichts verstehst. Die al-hîmiyâ ist nichts anderes als die Lehre der aus der Natur erwachsenden Substanzen und ihrer Wirkung. Mit Zauberei hat sie nichts zu tun. Sie macht nur jene Gesetzmäßigkeiten sichtbar, die der Schöpfung von jeher innewohnen.«
    »Wenn Ihr meint.« Rowan war nicht überzeugt. Als Laienbruder verstand er tatsächlich nichts von derlei Dingen, und es war ihm auch lieber so. Sollten andere sich um die Erforschung der Schöpfung und ihrer Geheimnisse bemühen – er selbst zog es vor, mit beiden Füßen fest auf dem Boden zu stehen und sich an das zu halten, was er hatte.
    »Wir werden die örtliche Vertretung deines Ordens aufsuchen«, kündigte Cuthbert an. »Ich benötige eine Reihe von Substanzen, die in der Apotheke zu finden sein sollten und von denen ich weiß, dass sie in Verbindung mit Metall gewisse Reaktionen hervorzurufen pflegen. Wir wollen sehen, was geschieht, wenn wir die Feder diesen Substanzen aussetzen.«
    »Und wenn sich herausstellt, dass die Feder echt ist?«, fragte Rowan. »Werdet Ihr den Auftrag der Königin dann annehmen?«
    »Wir werden sehen.«
    »Aber warum?«, platzte Rowan heraus. Die lethargische Gelassenheit, die Cuthbert an den Tag legte, machte ihn hilflos wütend, sodass er wie so viele Mal zuvor die Beherrschung verlor – aber anders als seine vorherigen Meister wies der alte Cuthbert ihn nicht zurecht, sondern bedachte ihn nur mit einem vielsagenden Blick.
    »Verzeiht«, hörte Rowan sich zu seiner eigenen Überraschung selbst sagen, »es ist nur … ich verstehe Euch nicht. Was befürchtet Ihr, Meister?«
    Cuthbert ließ seine Augen noch eine Weile auf ihm ruhen, ohne dass festzustellen gewesen wäre, was hinter den faltigen und doch jungenhaften Zügen des Benediktiners vor sich ging. »Du bist noch jung, Rowan«, sagte er dann, »deshalb siehst du vor allem die Herausforderung, das Abenteuer, das jenseits des Horizonts auf uns warten mag. Ich hingegen bin alt genug, um auch die Verantwortung zu begreifen

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