Das verschollene Reich
vergoss bittere Tränen in das grobe Leinen ihrer Schürze. Tröstend strich sie ihm übers Haar, wie sie es früher oft getan hatte, wenn er sich die Knie blutig geschlagen oder sich geschnitten hatte. Doch diesmal waren der Schmerz und die Wunde ungleich größer.
Noch während Rowan schluchzte, war von draußen Hufschlag zu hören. »Sie kommen«, sagte die Mutter leise.
»Nein.« Der Junge klammerte sich noch fester an sie.
»Du musst jetzt tapfer sein«, beschied sie ihm, und indem sie ihre ganze Kraft aufwandt, löste sie sich aus dem Griff seiner kurzen, aber kräftigen Arme. »Dein Vater ist hier.«
Gegen den Willen des Jungen, der sich mit aller Kraft wehrte, gelang es der Mutter, die Tür der kleinen, aus Lehm und Stroh errichteten Hütte zu öffnen. Grelles Tageslicht flutete herein, das Rowan blendete. Er rieb sich die Augen, einerseits der Helligkeit wegen, andererseits, um die Tränen fortzuwischen.
Vier Reiter standen vor der Hütte des kleinen, von einer hüfthohen Natursteinmauer umgebenen Gehöfts. Zwei von ihnen waren Soldaten, die in den Diensten des Sheriffs standen; der dritte ein Mann, der eine helle Mönchstracht trug und dessen Haupt mit einer Tonsur versehen war; der vierte schließlich war Sir Robert selbst, ein hochgewachsener Mann mit harten normannischen Zügen. Rowans Mutter würdigte er keines Blickes; seine Augen, in denen ein kaltes Feuer zu lodern schien, richteten sich sofort auf den Jungen.
»Nun, Rowan«, fragte er, »bist du bereit?«
Der Junge erwiderte nichts, stattdessen drängte er sich furchtsam an seine Mutter, die sich genötigt sah, es ein letztes Mal zu versuchen. »Bitte, Herr«, begann sie, »wollt Ihr es Euch nicht noch einmal …«
»Nein, Weib«, fiel Sir Robert ihr entschieden ins Wort. »Ich habe entschieden!«
Kurz entschlossen stieg er von seinem riesigen Kriegspferd und gab einem seiner Soldaten den Zügel. Mit klirrenden Sporen kam er auf Rowan zu und streckte die behandschuhte Rechte nach ihm aus. »Komm, Sohn«, sagte er. »Dies ist der Tag, von dem deine Mutter dir erzählt hat. Der Tag, der dein Leben verändern wird.«
Der Junge starrte wie gebannt auf die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, zögerte jedoch, sie zu ergreifen.
»Dies dort«, fuhr der Sheriff deshalb fort, auf den Mönch deutend, »ist Pater Angus vom Zisterzienserkloster von Melrose. Er hat sich bereit erklärt, dich in seine Obhut zu nehmen.«
Rowan schaute zu dem Mönch, der auf seinem Reittier saß und ihn mit einer Mischung aus Langeweile und Geringschätzung betrachtete. »Ich will nicht«, erklärte er schlicht.
»Was?« Sir Robert hob eine schmale Braue.
»Er ist noch jung«, sagte die Mutter rasch. »Er weiß noch nicht, welche Wohltat Ihr ihm erwiesen habt, Herr!«
»Noch nicht.« Der Sheriff rümpfte die Nase. »Aber du wirst es verstehen, Junge. Spätestens dann, wenn die Mönche dich Manieren lehren und dir den aufsässigen Schotten austreiben. Komm jetzt, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Rowan widersprach nicht mehr, aber er leistete der Aufforderung auch nicht Folge. Ängstlich zog er sich hinter die schlanke Gestalt seiner Mutter zurück.
»Ist es das, was du ihn gelehrt hast, Weib?«, fragte Sir Robert. »Sich hinter deinem Rock zu verstecken?«
»Verzeiht, Herr«, sagte sie und beugte das Haupt. »Er ist ein guter Junge, Ihr werdet sehen. Er wird alles tun, um Euch stolz zu machen.«
»Das will ich hoffen«, knurrte der Sheriff des Königs – und noch ehe Rowan reagieren oder seine Mutter noch etwas sagen konnte, hatte er den Jungen bereits gepackt und zog ihn fort.
»Mutter!«
»Rowan!«
Vergeblich streckte der Junge die Arme nach seiner Mutter aus – der Griff des Vaters war stärker.
»Mutter, bitte!«
Als sie das Flehen in seiner Stimme hörte, die Furcht in seinen Augen sah und die Tränen, die über seine Wangen liefen, hielt sie es nicht mehr aus. Sie lief ihm hinterher, worauf sich der Junge von seinem Vater losriss und ihr entgegeneilte. Ungeachtet des Morasts, der den Innenhof bedeckte, fiel sie auf die Knie nieder und schloss ihn noch einmal in die Arme, fühlte sein pochendes kleines Herz an ihrer Brust – ehe er erneut von ihrer Seite gerissen wurde.
»Was fällt dir ein, Weib?«
Sie spürte, wie etwas sie an der Schläfe traf, hart und schmerzhaft, und sank zurück auf den schlammübersäten Boden. Mit verschwimmenden Blicken sah sie, wie ihr kleiner Sohn von einem der Soldaten hochgehoben und auf dessen Pferd gesetzt
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