Das verschollene Reich
vielmehr ihre Häupter, die man auf einen Spieß gesteckt zur Schau gestellt hatte.
»Es besteht kein Zweifel«, meinte Cuthbert achselzuckend, »Sibylla und Isabela sind beide Töchter ihres Vaters Amalric.«
»Wie gut kanntet Ihr den König, Meister?«
Der alte Mönch warf Rowan einen düsteren Blick zu. »Gut genug, um zu begreifen, dass wir von nun an vorsichtig sein müssen, Junge«, entgegnete er. »Sehr vorsichtig.«
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14
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»Ich habe genug, mein Bruder.
Behalte, was du hast.«
Genesis, 33,9
Nordfrankreich
25. November 1173
»Hast du Hunger?«
Kathan erschrak beinahe selbst darüber, wie rau und abweisend seine Stimme klang. Deshalb fragte er noch einmal, diesmal ein wenig sanfter: »Willst du etwas essen?«
Es war noch früh am Morgen.
Der neue Tag dämmerte herauf, zwischen den kahlen Bäumen lag zäher Nebel. Der Boden war von grauem Reif überzogen, die Luft so kalt, dass der Atem darin zu gefrieren schien. Kathan und das Mädchen waren allein in dem Lager, das sie unterhalb eines großen, moosüberwucherten Felsens bezogen hatten, der nach der Wetterseite hin natürlichen Schutz bot. Mercadier, der die erste Nachtwache übernommen und das Feuer am Brennen gehalten hatte, kauerte in seinen Umhang und eine Decke gehüllt am Fuß des Felsens und schlief noch; wo Gaumardas war, konnte Kathan nur vermuten. Möglicherweise saß er irgendwo auf einem umgestürzten Stamm und verrichtete seine Notdurft. Seit den Ereignissen von Damietta machte ihnen allen die Verdauung zu schaffen, aber Gaumardas schien es am ärgsten erwischt zu haben. Vielleicht, überlegte Kathan, hatte der Kerker von Damietta seinen Waffenbruder zu jenem blutrünstigen Scheusal verkommen lassen – vielleicht hatte er auch nur sein wahres Wesen ans Licht gefördert …
Die junge Gefangene regte sich unter der Decke, die Kathan ihr gegeben hatte. Ein roter Haarschopf kam zum Vorschein, dazu ein blasses Gesicht mit von der Kälte geröteten Wangen. Sie war noch ein Kind, natürlich, aber zumindest in dieser einen Hinsicht musste Kathan Gaumardas widerstrebend recht geben: Die Augen des Mädchens, von dem sie noch nicht einmal den Namen wussten, waren tatsächlich außergewöhnlich. Einem Sog gleich zogen sie die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich und ließen sie nicht wieder los.
Kathan war ein Kämpfer, kein Denker.
Er war dem Orden der Templer nicht beigetreten, um sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, von denen er nichts verstand, sondern um sein Leben und sein Schwert in den Dienst des Glaubens zu stellen. Entsprechend hatte er sich bislang keine ernsthaften Gedanken darüber gemacht, ob es stimmte, was man von dem Mädchen behauptete, sondern sich alleine darauf konzentriert, die ihnen gestellte Aufgabe zu erfüllen. An diesem Morgen jedoch, als er am Lager des Mädchens hockte, fragte er sich zum ersten Mal, ob es tatsächlich über die Gabe des zweiten Gesichts verfügte, ob es tatsächlich Visionen von der Zukunft hatte – und wenn ja, was es in diesen Visionen gesehen haben mochte.
»Guten Morgen«, brummte er und wiederholte erneut: »Hast du Hunger?«
Blinzelnd schaute die Gefangene ihn an, noch immer furchtsam, aber nicht mehr ganz so verstört wie an den Tagen zuvor. Kathan hielt ihr das Stückchen Käse hin, das er von seiner Ration abgezweigt hatte. Wie gebannt starrte sie auf das Essen in seiner Hand, schien in einem ersten Impuls danach greifen zu wollen, aber ihre Furcht hielt sie zurück. So, wie sie vor ihm kauerte, das lange Haar in schmutzigen Strähnen, erinnerte sie ihn an ein scheues Tier.
»Du musst Hunger haben, oder nicht?«
Aus ihrem Blick sprach so viel Unverständnis, dass er schon fürchtete, sie würde seine Sprache nicht verstehen oder gar mit Taubheit geschlagen sein. »Essen«, sagte er deshalb überdeutlich und machte eine entsprechende Handbewegung, aber sie reagierte noch immer nicht. Natürlich nicht, schalt er sich selbst einen Narren. Das Kind hatte mit angesehen, wie ihr Dorf in Schutt und Asche versunken und alle Bewohner niedergemacht worden waren. Erwartete er wirklich, dass sie ihm aus der Hand fraß wie ein dressierter Hund?
Er nickte und legte das Stück Käse kurzerhand vor ihr auf einen Stein. Dann erhob er sich und wandte sich ab, um seine Sachen zusammenzupacken – als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Rasch und sehr viel geschickter, als er es ihr zugetraut hätte, griff sie trotz ihrer an den Handgelenken gefesselten Arme nach dem Käse und
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