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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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steckte ihn sich in den Mund. Als er sich wieder zu ihr umwandte, erstarrte sie in ihrer Bewegung und hörte sofort zu kauen auf, schaute ihn nur schuldbewusst an.
    »Schon gut«, brummte er und nickte ihr ermunternd zu. »Iss nur.«
    Er wandte sich wieder ab, damit sie in Ruhe weiteressen konnte, als etwas Unerwartetes geschah.
    »Deine Augen«, hauchte eine brüchige, tonlose Stimme.
    Kathan war so überrascht, dass er blitzschnell herumfuhr. Sie erschrak, und erneut erinnerte ihn ihr Blick an den eines in die Enge getriebenen Rehs. »Hast du etwas gesagt?«, fragte er, so sanft er es vermochte. Er war sich selbst nicht sicher, ob er die Worte wirklich gehört hatte oder ob es das Flüstern des Windes gewesen war.
    Das Mädchen zögerte einen Moment. »Deine Augen«, sagte es dann, ein wenig lauter als zuvor, aber voller Furcht und Unsicherheit. Fast hörte es sich an wie eine Frage.
    »Meine Augen«, wiederholte er. Es hätte ihm gleichgültig sein können, aber aus einem unerfindlichen Grund empfand er Erleichterung darüber, dass sie ihr Schweigen gebrochen hatte. »Was ist mit ihnen?«
    »Blau«, antwortete das Kind.
    »Das ist richtig.« Er nickte, versuchte ein Lächeln, was ihm angesichts der morgendlichen Kälte und des wuchernden Bartes in seinem Gesicht nicht recht gelang. »Und?«
    »Wie in meinem Traum«, erwiderte das Mädchen, mehr nicht. Kathan wollte nachfragen, was damit gemeint war, aber er ahnte, dass er keine Antwort bekommen würde. Also begnügte er sich damit zu nicken und kehrte dann zu seiner Arbeit zurück.
    Die Entdeckung, die er dabei machte, war erschreckend.
    Er empfand etwas in der Nähe dieses Mädchens, eine Gefühlsregung, von der er geglaubt und im Grunde sogar gehofft hatte, dass er sie verloren hatte. Er konnte nicht anders, als sich noch einmal umzudrehen, und eine Woge von Wärme durchflutete ihn, als er das Kind dabei beobachtete, wie es auf dem Boden kauerte und seine Morgenmahlzeit aß. Kaum war die Woge jedoch verebbt, fühlte Kathan einen bohrenden Schmerz – jenen Schmerz, der der Grund dafür gewesen war, dass er seinem alten Leben entsagt und das Gelübde der Templer abgelegt hatte; jenen Schmerz, den er niemals wieder in seinem Leben zu spüren gehofft hatte.
    Er riss sich vom Anblick des Mädchens los, packte die wenige weltliche Habe, die er sein Eigen nannte, in den ledernen Sack und zog ihn zu. Das Herz schlug ihm dabei bis zum Hals, und seine Bewegungen waren fahrig, während er mit aller Macht die Erinnerungen niederkämpfte, die aus tiefstem Seelengrund emporsteigen wollten.
    Erinnerungen voller Schmerz.
    »Bruder?«
    Kathans Kopf flog gehetzt herum. Mercadier war erwacht. Noch immer kauerte der Templer in seine Decke gehüllt am Fuß des Felsens, hatte jedoch die Augen aufgeschlagen. Vermutlich beobachtete er ihn schon eine Weile.
    »Was?«, fragte Kathan, seine Unruhe nur mühsam verbergend.
    »Sei vorsichtig«, beschied ihm Mercadier.

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15
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    »Nun aber wollen und verlangen wir zu wissen, ob du mit uns den rechten Glauben habest und in allem hältst zu Jesu Christo, unserem Herrn.«
    Brief des Johannes Presbyter, 13 – 15
    Königspalast von Jerusalem
20. Januar 1187
    »Nun, Schwester?«
    Die Worte schreckten Sibylla aus ihren Gedanken. Sie saß auf der steinernen Fensterbank, von der aus man auf den Innenhof des Königspalasts und die angrenzende Zitadelle blickte. Schon als Kind hatte sie hier oft gesessen und dem bunten Treiben zugesehen, den Soldaten und Dienern, den Knechten und Mägden, die dort unten geschäftig ihren Dienst versahen, und der Gedanke, im wahrsten Wortsinn hoch über ihnen zu stehen, hatte sie stets mit einer gewissen Genugtuung erfüllt, hatte ihren Stolz genährt und ihr Zuversicht gegeben. Seit der Schatten ihres Vaters nicht mehr behütend über ihr lag und erst recht seit dem Tod ihres Bruders, hatte der Blick aus der Höhe jedoch auch etwas Bedrohliches.
    »Was willst du?« Sibylla wandte sich ihrer Halbschwester zu, machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben. Ähnlich wie sie trug auch Isabela ein aufwendig gearbeitetes Kleid aus orientalischer Seide. Allerdings fand Sibylla, dass die kindhafte, speckbäckige Gestalt ihrer Schwester darin unpassend, fast lächerlich wirkte. »Bist du gekommen, dich an meiner Trübsal zu weiden?«
    »Geliebte Schwester, es betrübt mich, dass Ihr so über mich denkt«, entgegnete Isabela und beugte unterwürfig das Haupt, »wollte ich doch nichts als Euch Gesellschaft leisten. Eure

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