Das verschollene Reich
Dienerin sagte mir, Ihr wärt hier zu finden, und ich musste daran denken, dass wir einst gemeinsam hier gesessen und den Knechten bei der Arbeit zugesehen haben.«
»Das ist wahr.« Die Erinnerung an jene sorglosen Tage entlockte Sibylla ein Lächeln. »Ehrlich gesagt wundert es mich, dass du dich daran erinnerst. Du bist noch ein Kleinkind gewesen damals. Ich musste dich auf den Arm nehmen, damit du über die Brüstung blicken konntest.«
»Natürlich erinnere ich mich daran, Schwester«, entgegnete Isabela. »Ebenso wie ich mich daran erinnere, dass Ihr immer freundlich und gut zu mir gewesen seid in all den Jahren.«
Sibylla schaute sie aufmerksam an. Die Art und Weise, wie ihre Schwester sie aus ihren blauen Augen ansah, hatte etwas Anrührendes, und sie bedauerte plötzlich, sie so brüsk empfangen zu haben. »Setz dich zu mir«, forderte sie sie auf und klopfte auf das samtene Kissen neben sich. Isabela kam der Bitte nach und nahm Platz, und eine Weile saßen die ungleichen Schwestern nur da und genossen den Frieden des Augenblicks, lauschten den Geräuschen, die aus dem Hof heraufdrangen. Als ein lautes Bersten und Platschen und kurz darauf die weinerliche Stimme eines Händlers zu hören war, der lauthals beklagte, dass der Verlust dieses Weinfasses das Ende für ihn und seine sechzehn Töchter bedeuten werde, schauten beide einander an und mussten lachen.
»Wisst Ihr noch«, fragte Isabela, »als wir einmal eine Schale Kichererbsen aus dem Fenster geschüttet haben und einer der Mönche an ein Wunder glaubte?«
»Auch daran erinnerst du dich?«, fragte Sibylla überrascht.
»Aber natürlich«, versicherte Isabela, »ich erinnere mich an vieles aus jenen Tagen. Vor allem daran, dass Ihr immer für mich da wart, Schwester. Wie oft habt Ihr mich getröstet, wenn ich Kummer hatte.«
»In der Tat.« Sibylla nickte gedankenverloren, und erneut konnte sie nicht anders, als wehmütig zu lächeln. »Wie sehr bedaure ich, dass jene glücklichen Tage vorüber sind.«
»Sind sie das?« Isabela rückte ein wenig näher an sie heran, die Stimme vertraulich gesenkt. »Warum kann es zwischen uns nicht wieder so sein wie früher?«
»Weil die Dinge kompliziert geworden sind«, erwiderte Sibylla nüchtern, aller Wehmut zum Trotz. »Damals sind wir Kinder gewesen, die Macht und die Verantwortung lagen in den Händen anderer. Nun jedoch bin ich es, auf deren Schultern die Verantwortung für das Reich ruht, und sie wiegt schwer in diesen Tagen.«
»Nun«, meinte Isabela mit anrührender Naivität, »ich gebe zu, ich verstehe nicht viel von diesen Dingen … Aber warum habt Ihr Euch krönen lassen, wenn Ihr so schwer an der Verantwortung tragt? Hättet Ihr dem Thron nicht auch entsagen können?«
Sibylla lächelte freudlos – spätestens jetzt wusste sie wieder, weshalb sie auf den Besuch ihrer Schwester so ungehalten reagiert hatte. »Du wirst dich niemals ändern«, sagte sie leise. »Ein Teil von dir ist immer noch das kleine Mädchen, das auf dem Schoß unseres Vaters sitzt und ihn am Barte zieht, wofür er dich ungleich mehr zu lieben schien als mich. Dennoch haben er und unser geliebter, viel zu früh verstorbener Bruder mir ihr Vertrauen geschenkt und mir aufgetragen, die Krone anzunehmen – und mit ihr auch die Last der Verantwortung.«
Isabela zögerte kurz. »Natürlich, Ihr habt recht«, versicherte sie dann und senkte schuldbewusst das Haupt. »Ich weiß nicht, was Verantwortung bedeutet, wie könnte ich das auch? Aber ich kann fühlen, dass Ihr einsam seid und jemanden braucht, der Euch zur Seite steht. Eine Freundin. Eine Schwester.«
»Ich bin nicht einsam«, widersprach Sibylla entschieden. »Mir zur Seite steht ein Mann, der mir innig verbunden ist und der die Verantwortung mit mir teilt. Guy ist der rechte Mann, um Jerusalem in eine vielversprechende Zukunft zu führen. Über die erforderliche Stärke verfügt er ebenso wie über das nötige Maß an Entschlossenheit.«
»Daran zweifle ich nicht«, versicherte Isabela und legte in einer Geste der Vertraulichkeit ihre Hand auf die ihrer Schwester. »Dennoch könnte es zwischen uns wieder sein wie früher. Wir könnten einander anvertrauen, was uns bedrückt, und müssten nicht …«
»Glaubst du das wirklich?« Sibylla blickte ihr prüfend ins Gesicht.
»Aber ja – warum auch nicht? Auch wenn eine von uns Königin geworden ist, so haben wir doch noch immer viel gemeinsam. Wir sind einander gleich, wie nur Schwestern es sein können.«
Sosehr
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