Das verschollene Reich
sie sich auch mühte, konnte Sibylla kein Falsch in Isabelas blassen, makellos glatten Gesichtszügen erkennen. Einerseits war das beruhigend, weil wohl keine Bedrohung von ihrer jüngeren Halbschwester ausging; andererseits erregte es ihren Unmut, weil es an Dingen rührte, die weit in der Vergangenheit lagen.
»Du und ich, Isabela«, sagte sie leise, »haben nichts gemeinsam außer unserem Vater. Wir sind so verschieden wie die Frauen, die uns geboren haben.« Mit einem Ruck zog sie ihre Hand weg. Die Bestürzung, die darauf in Isabelas Zügen zu lesen war, erfüllte sie mit grimmiger Genugtuung. »Du verstehst nichts, gar nichts«, beschied sie ihr hart. »Nichts von den Dingen, die mir des Nachts den Schlaf rauben. Nichts von den Gefahren, die uns drohen, von den Feinden, von denen wir umgeben sind, und von dem, was getan werden muss, um sie abzuwehren. Und du glaubst, dass wir einander gleich wären? Dass du mir eine Freundin sein könntest?«
»Ich …« Isabelas Blick flackerte, verunsichert schaute sie zu Boden. »Nein«, gestand sie kleinlaut.
»Geh, Schwester«, beschied Sibylla ihr. »Geh und spiel mit einer Puppe oder mit deinem sanftmütigen Ehemann, der ein ebensolch weltfremder Träumer ist wie du.«
»Ich … verstehe.«
Noch einen Augenblick verharrte Isabela an ihrer Seite, schien sich sammeln zu müssen. Dann erhob sie sich. »Darf ich mich entfernen?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»Geh nur.« Sibylla nickte. »Du hast nicht um Einlass gebeten, so bitte auch nicht um Entlassung.«
Ihre Schwester verbeugte sich, dann verließ sie das Gemach der Königin. Sibylla wandte das Haupt und blickte wieder auf den Hof, wo der jammernde Weinhändler damit beschäftigt war, die Überreste des geborstenen Fasses aufzusammeln.
So konnte sie nicht sehen, wie ihre Schwester schon nach wenigen Schritten ihre unterwürfige Haltung ablegte. Und sie bemerkte auch nicht das zufriedene Lächeln, das über Isabelas bleiche Züge huschte.
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16
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»Beachte und halte in Ehren alles, was uns gehört.«
Brief des Johannes Presbyter, 25
Königspalast von Jerusalem
20. Januar 1187
Ein dumpfes Rumpeln ließ Rowan aus dem Schlaf fahren.
Benommen schoss er in die Höhe, sich noch in dem Traum wähnend, den er gehabt hatte, und erwartete, sich seinem alten Meister und dessen züchtigender Hand gegenüberzusehen.
»Nein, bitte …!«, entfuhr es ihm, während er schützend die Arme über den Kopf hob – und feststellte, dass er sich gar nicht mehr im Konvent von Ascalon befand. Die Kammer war ungleich größer und geradezu verschwenderisch eingerichtet, und der Mönch, der in dem bequemen Bett neben seinem ruhte und den Schlaf der Gerechten hielt, war auch nicht der gestrenge Basileus, sondern der alte Fuchs Cuthbert!
Doch Rowan verspürte keine Erleichterung. Das eigenartige Gefühl, mit dem er erwacht war, blieb bestehen. Sein Blick fiel auf das Fenster, dessen seidener Vorhang im kühlen Nachtwind wehte. Jenseits davon stand der Mond am dunklen Himmel. Etwas stimmte nicht, da war sich Rowan sicher, auch wenn er nicht …
In diesem Moment erinnerte er sich an das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Hatte er es lediglich geträumt?
Gehetzt schaute er sich im Halbdunkel der Kammer um – und das Blut gefror ihm in den Adern, als er in der gegenüberliegenden Ecke eine Gestalt ausmachte!
Zuerst hielt er sie nur für einen Schatten, schwarz und reglos, wie sie war, aber je besser sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnten, desto deutlicher konnte er sehen. Und er erkannte, dass der Schatten Arme, Beine und ein vermummtes Haupt hatte, aus dem ihn zwei glänzende Punkte anstarrten.
»Heh, du!«
Sein Entsetzen zwang ihn dazu, den Eindringling anzusprechen, andernfalls hätte er laut schreien müssen. In diesem Moment jedoch kam Leben in die von Kopf bis Fuß in tiefstes Schwarz gehüllte Gestalt. Es war, als würden die Schatten der Nacht plötzlich ein unheimliches Eigenleben gewinnen. Der Schemen löste sich aus der Nische und floh mit einem weiten Sprung quer durch die Kammer auf das Fenster zu.
Rowan handelte, noch ehe er über mögliche Folgen nachdenken konnte. Wie von der Natter gebissen, sprang er von seinem Lager auf und setzte dem Vermummten hinterher, der das Fenster inzwischen schon erreicht hatte und mit katzenhafter Gewandtheit auf die Brüstung sprang. Mit einem dumpfen Aufschrei warf sich Rowan nach vorn und packte zu – just in dem Augenblick, als der Vermummte hinaus in die
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