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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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das Schreckliche: Hinter einer Wegbiegung, die sich um einen schroffen Felsen wand, war unvermittelt eine abgestorbene Zeder aufgetaucht. An dieser Zeder hingen – Rowan schnappte entsetzt nach Luft – die halb verwesten Körper von fünf Männern. Die Aasfresser hatten sich an ihnen gütlich getan und das Fleisch von den Knochen genagt. Was noch davon übrig war, rottete in Wind und Sonne und verbreitete entsetzlichen Gestank.
    Menschen hatten sie ihrer Waffen und Ausrüstung beraubt, Krähen ihnen die Augen ausgehackt, sodass nur leere Höhlen den Reisenden entgegenstarrten. An ihren zerfetzten Waffenröcken, die einstmals weiß gewesen waren, und an den Resten der roten Tatzenkreuze darauf war jedoch deutlich zu erkennen, dass es Christen gewesen waren, die dort hingen und ein so unrühmliches Ende gefunden hatten.
    Tempelritter.
    Farid hatte sein Tier gezügelt. »Allah, o Allah!«, rief der Führer aus und verzog voller Entsetzen sein sonnengebräuntes Gesicht, das etwas von einem Fuchs hatte, wie Rowan fand. »Wieso nur Menschen tun einander so etwas an?«
    »Weil sie genau das sind: Menschen«, erwiderte Cuthbert, während er langsam an der schaurigen Staffage vorüberzog. »Bleibt nicht stehen«, ermahnte er seine Gefährten, »reitet weiter. Lasst euch eure Betroffenheit nicht anmerken, hört ihr?«
    Rowan nickte, sein Meister hatte recht. In kurzer Entfernung zog ihnen eine kleine Karawane arabischer Händler voraus. Wenn sie Verdacht schöpften, würden Rowan und seine Gefährten womöglich ebenso enden wie die fünf unglücklichen Gestalten am Baum.
    Er nahm die Gerte und wollte sein Dromedar antreiben, als sein Blick auf Cassandra fiel. Die junge Frau hatte ihr Tier ebenfalls gezügelt und starrte auf die entsetzlich entstellten Leichen. Doch in ihren blassen Zügen war nicht der leiseste Hauch von Entsetzen zu erkennen. Schlimmer noch, die fünf verwesenden Körper schienen sie auf eigentümliche Weise zu faszinieren – oder irrte er sich?
    »Komm weiter«, sagte er und nickte ihr ermunternd zu, und es war, als würde sie aus einem Traum erwachen. Sie wandte den Blick und schaute ihn an, doch im ersten Moment kam es ihm vor, als würde sie geradewegs durch ihn hindurchsehen. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    Der Blick ihrer braunen Augen klärte sich, und er bedeutete ihr, den anderen beiden zu folgen. Sie holten auf und reihten sich wieder in die kleine Kolonne ein, die junge Frau mit erkennbarem Gleichmut, Rowan noch immer aufgewühlt von dem entsetzlichen Anblick und dem beißenden Verwesungsgeruch.
    »Diese elenden Muselmanen«, knurrte Rowan mehr zu sich selbst als zu seinem Meister. »Kennen diese Barbaren denn kein Erbarmen?«
    »Kannten die Streiter Christi Erbarmen, als sie Jerusalem eroberten und jeden Sarazenen in der Stadt töteten, ganz gleich ob Mann, Frau oder Kind?«
    »Was hatten diese Tempelritter so weit im Osten zu suchen?«, überlegte Rowan.
    »Ich nehme an, sie haben an einem Raubzug über die Grenze teilgenommen«, vermutete Cuthbert. »Ihr Ordensmeister Gérard de Ridefort vertritt die Ansicht, dass die Pilgerwege auch durch Angriffe auf sarazenische Karawanen verteidigt werden. Dabei sind die Templer wohl auf einen Gegner getroffen, der stärker war als sie.«
    »… und der ihre Leichen wie die Kadaver von Tieren verrotten lässt«, fügte Rowan entrüstet hinzu.
    »In der Tat«, entgegnete Cuthbert, »und das ist ungewöhnlich.«
    »Was meint Ihr?«
    »Sofern sie sie nicht gefangen nehmen, um sie gegen Lösegeld wieder freizulassen oder in die Sklaverei zu verkaufen, pflegen Sarazenen ihre besiegten Gegner zu enthaupten und ihre Körper zu verbrennen. Wer dies getan hat, der wollte seine Feinde nicht nur töten, sondern sie demütigen, sie völlig zerstören.«
    »Aber wer tut so etwas?«, wollte Rowan wissen.
    »Hass«, entgegnete der alte Mönch nur. »Nur unbändiger Hass vermag eine solche Barbarei zu verüben.«
    »Das nur Anfang«, meinte Farid, der unmittelbar vor ihnen ritt und einen Teil ihrer Unterhaltung mitbekommen hatte. »Überlegen, ob umkehren, ya sayidî . Sein Zeichen!«
    »Zeichen?« Rowan verdrehte die Augen. »Wofür sollte das wohl ein Zeichen sein?«, fragte er in unverhohlenem Spott.
    Farid blickte über die Schulter zurück, einen düsteren Ausdruck in seinen kleinen Augen. »Dafür, dass betreten verbotenes Land.«

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21
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    »Lass mein Herz sich nicht neigen zum Bösen.«
    Psalm 141,4
    Festung Tiberias, Galiläa
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