Das verschollene Reich
darin auch verräterische Spuren hinterließ, nahm sie nur am Rande wahr. Ihr Wunsch, zu fliehen und möglichst große Distanz zwischen sich und ihre Peiniger zu bringen, war stärker als alle Bedenken.
Endlich hatte sie den Rand der Senke erreicht. Noch ein letzter, vorsichtiger Blick, dann wandte sie sich um und huschte davon, hinein in das bleiche Gewirr kahler Birken. Wolken verhüllten den mondlosen Himmel, und wäre nicht der Schnee gewesen, der auf geheimnisvolle Weise zu leuchten schien und ihr den Weg durch die Dunkelheit wies, hätte sie die Hand nicht vor Augen gesehen.
Schon nach wenigen Schritten begann sie zu laufen. Doch wie in ihrem Traum hatte sie das Gefühl, dabei kaum von der Stelle zu kommen. Der weiche Schnee verschluckte ihre kleinen Füße und machte das Vorankommen beschwerlich, tief hängende Äste peitschten ihr ins Gesicht. Sie achtete nicht auf den Schmerz und hastete weiter, die angewinkelten Arme schützend vor sich haltend.
Weiter, nur weiter.
Die Bäume lichteten sich, und das Mädchen wollte schon innerlich aufatmen – doch im nächsten Moment endete die Flucht.
»Wohin des Wegs?«
Sie erschrak so heftig, dass sie ausglitt und bäuchlings im eiskalten Schnee landete. Feuchtigkeit drang durch ihr wollenes Kleid. Verzweifelt mit den Beinen strampelnd, richtete sie sich wieder auf – nur um sich dem grässlichen Gesicht mit den beiden Mündern gegenüberzusehen, die höhnisch auf sie herabgrinsten.
»Willst du etwa fliehen?«
Im bleichen Leuchten des Schnees wirkten Gaumardas’ bizarre, von der Kapuze aus Kettengeflecht umrahmten Züge noch bedrohlicher. Mit weit aufgerissenen Augen taxierte er das Mädchen, das hilflos vor ihm auf dem Boden lag.
»Sieh an, welch ein Zufall«, krächzte er mit von der Kälte beschlagener Stimme. »Ausgerechnet mir läufst du über den Weg. Das ist ein Zeichen, daran besteht kein Zweifel.«
»Bitte«, flüsterte sie, »tut mir nichts.«
»Sieh an, du redest ja mit mir. Ich dachte immer, nur dem guten Bruder Kathan wird diese Ehre zuteil. Was starrst du mich denn so an? Versuchst du deine dunklen Künste nun auch bei mir?«
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, und schwieg – was den Roten erst recht in Rage zu bringen schien.
»Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!«, zischte er, packte sie grob am Oberarm und zerrte sie auf die Beine. Dabei starrte er sie durchdringend aus seinen weit aufgerissenen Augen an, die blutunterlaufen und von roten Adern durchzogen waren – und plötzlich wurde ihr klar, dass sie diese Augen schon zuvor gesehen hatte.
In ihrem Traum.
Auch einer der Wölfe hatte solch blutunterlaufene Augen gehabt, ein weiterer schwarze wie der Ritter Mercadier, der dritte schließlich blaue wie Kathan. Die Vision war also doch richtig gewesen!
Die Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb. Sie wankte und wäre gestürzt, wenn Gaumardas sie nicht festgehalten hätte. Noch immer hielt er ihre gefesselten Handgelenke umklammert, stierte auf ihre nackten, zerschundenen Arme.
»Wie«, knurrte er, »kann etwas nur so schön sein und zugleich so verdorben?« Der Blick, mit dem er sie bedachte, ließ sie schaudern. »Du bringst die Schatten in mir zum Vorschein, meine dunkelsten Stunden. Ich glaubte sie überwunden, aber du hast sie wieder emporgeholt, mit deinen Blicken und deinem unschuldigen Äußeren. Andere magst du damit täuschen und verhexen, aber nicht Gaumardas. Du magst wie ein Kind aussehen, in Wirklichkeit jedoch bist du die Sünde selbst, der Feind, der uns alle in den Abgrund zu reißen droht. Aber ich werde dir den Dämon austreiben. Glaub mir, ich weiß, was dazu nötig ist.«
Ein schmutziges Grinsen verzerrte sein hässliches Narbengesicht. Das Mädchen fühlte Panik. Verzweifelt wollte es sich losreißen, aber der Ritter hielt es unnachgiebig fest.
»Wohin willst du?«, fragte er. »Hier ist weit und breit nichts als dunkler Wald, und es gibt niemanden, dessen Verstand du mit deinen Künsten verwirren könntest. Nur Gaumardas ist hier, und er wird deinen kleinen Körper von aller Verderbtheit reinigen!«
Damit stieß er sie so heftig von sich, dass sie strauchelte und fiel. Entsetzt schaute sie an ihm empor, sah, wie er den Waffengurt um seine Hüften löste und den Rock und das wattierte Untergewand hochschlug. Mit bebenden Händen machte er sich darunter zu schaffen, wobei er in heiseres Keuchen verfiel. Dampfender Atem quoll zwischen seinen gefletschten Zähnen hervor und ließ ihn nur noch mehr
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