Das verschollene Reich
beantworten zu müssen. Im Grenzland war höchste Vorsicht geboten. Wer im Verdacht stand, für die Gegenseite zu spionieren, der wurde ohne Federlesens getötet.
Sie ließen die Höhen von Galiläa hinter sich und stiegen in die Ebene von Damaskus hinab. Die Berge zur Linken, die Wüste zur Rechten, näherten sie sich der Stadt, der sie jedoch keinen Besuch abstatten würden. Wie viele der Kaufleute, die den Handelsweg heraufkamen, würden sie sich nach Nordosten wenden und der Seidenstraße folgen, jener Verkehrsader, die sich von den Gestaden des Morgenlands quer durch den Orient erstreckte und darüber hinaus in Regionen, deren Namen Rowan noch nicht einmal aussprechen konnte. In Palmyra, der Wüstenstadt, die schon zur Zeit der römischen Kaiser eine Metropole des Handels gewesen war, würden sie sich nach Bruder Cuthberts Willen eine Karawane suchen, der sie sich anschließen und in deren Schutz sie die Wüste durchqueren konnten, bis hin zur Handelsstation Abu Kemal, wo Cassandra von den Sklavenhändlern aufgegriffen worden war. Dort, so hatte Cuthbert weiter erklärt, begann ihre eigentliche Suche.
»Nun, mein junger Freund«, erkundigte sich der alte Mönch, der einmal mehr hinter Rowan ritt und die Packtiere führte, »wie gefällt dir die Reise bislang?«
Rowans Erwiderung war ein verwegenes Grinsen. Er hatte sich an sein unentwegt schaukelndes Reittier gewöhnt und liebte es, im Sattel zu sitzen, dem Gesang des Windes zu lauschen und eine Landschaft zu durchstreifen, die unermesslich frei und weit zu sein schien. »Ich habe mich nie in meinem Leben besser gefühlt, Meister«, bekannte er freimütig, »und ich kann es kaum erwarten, ferne Länder und unbekannte Orte zu sehen. Ich danke Euch von Herzen, dass Ihr mich zu Eurem Diener gemacht habt.«
»Danke mir nicht zu früh, Junge«, riet ihm der alte Mönch. »Noch kannst du nicht ahnen, was uns unterwegs erwarten wird.«
»Und wenn schon.« Rowan zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Alles ist besser, als in engen Klostermauern eingesperrt zu sein und niedere Arbeiten verrichten zu müssen.«
»Es ist das jugendliche Ungestüm, das aus dir spricht«, entgegnete Cuthbert. »Zu lange war es gefangen und drängt nun zum Abenteuer, zum großen Unbekannten jenseits der Grenzen.«
»Und? Was ist falsch daran?«
»Nichts – und alles. Denn nicht um unserer selbst willen haben wir uns auf diese Reise begeben, sondern um der Wahrheit willen, das solltest du nicht vergessen.«
»Das werde ich nicht«, versicherte Rowan, »es ist nur – ich habe mich in meinem Leben noch nie so frei gefühlt, Meister. Nicht seit …«
»Ja?«, hakte Cuthbert nach.
»Nicht so wichtig.« Rowan schüttelte den Kopf. Sobald er an die Vergangenheit dachte, merkte er, wie sich ein dunkler Schatten über sein Gemüt breitete.
Er wollte sich nicht erinnern.
Nicht hier.
Nicht jetzt.
»Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich wiederhole es gerne«, bot Bruder Cuthbert an, »wenn es etwas gibt, das du mir erzählen möchtest …«
»Und ich habe Euch schon einmal gesagt, dass ich nichts zu beichten habe«, erwiderte Rowan störrisch. Die Beharrlichkeit des alten Mönchs ärgerte ihn. »Nicht, seit mich mein vorheriger Meister wie einen Hund verprügelt hat, nachdem ich gebeichtet hatte. Der Preis für die Absolution, so pflegte er zu sagen, ist schmerzvolle Reue.«
»Das tut mir leid«, entgegnete Cuthbert. Die Art, wie sich seine buschigen Brauen zusammenzogen, machte deutlich, dass er es ehrlich meinte. »Bedauerlicherweise sind auch die Diener des Herrn vor Irrtümern nicht gefeit.«
»Dieser spezielle Irrtum«, knurrte Rowan halblaut in das Tuch, das er um die Kinnpartie geschlungen hatte, »hat mir drei Rippen gebrochen und dafür gesorgt, dass ich bis auf den heutigen Tag nicht Wasser lassen kann, ohne dabei Schmerzen zu leiden.«
»Verzeih«, sagte Cuthbert.
Rowan wandte überrascht den Blick. Obwohl auch sein Meister das Tuch der Beduinen um den Kopf trug und nur ein Teil seines Gesichts zu sehen war, war das Bedauern darin deutlich zu erkennen. »Ihr könnt nichts dafür«, stellte er klar.
»Nein. Dennoch bitte ich dich im Namen meines Mitbruders um Verzeih…« Bruder Cuthbert verstummte abrupt. Sein Blick ging an Rowan vorbei, seine Augen hatten sich entsetzt geweitet.
»Meister, was …?«
»Bei Mohammed und allen Heiligen!«, ließ sich in diesem Augenblick auch Farid vorne an der Spitze vernehmen.
Rowan fuhr im Sattel herum. Und dann sah auch er
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