Das verschollene Reich
Zeit
Nachdenklich schritt Graf Raymond in der Kammer auf und ab, die an die große Halle der Festung Tiberias grenzte und dem Herrn der Burg vorbehalten war. Wieder und wieder las er das Schriftstück, das ein Bote aus Jerusalem gebracht hatte – nicht nur, um sich des Inhalts zu versichern, sondern auch, um jene kleinen Nuancen zu verstehen, die zwischen den Zeilen enthalten waren. Denn davon, so kam es dem Grafen von Tripolis jedenfalls vor, gab es eine ganze Menge!
»Nun?«, erkundigte sich der Mann, der an der Tür der Kammer stand, als wollte er sie bewachen. Er war nach Art der Orientalen gekleidet, mit einer bis zu den Knöcheln reichenden, reich bestickten Tunika, einer Schärpe sowie einem Turban, dessen loses Ende er um den Hals geschlungen hatte. Zwar hatte er sonnengebräunte Haut und dunkle Augen, an seiner akzentfreien Sprache und seinem Gebaren glaubte der Graf jedoch zu erkennen, dass der Mann allenfalls zur Hälfte Orientale war. Es war ein offenes Geheimnis, dass Saladin längst nicht nur Söhne Mohammeds unter seinem Banner versammelte.
»Ihr hattet recht«, antwortete Raymond, nachdem er den Brief ein weiteres Mal überflogen hatte.
»In welcher Hinsicht?«
»In so ziemlich jeder«, musste der Graf zugeben. »Wie mir berichtet wird, hat Königin Sibylla tatsächlich eine Expedition entsandt. Wie es heißt, hat sie einen gelehrten Benediktinermönch beauftragt, das Reich des Priesterkönigs aufzusuchen und Kontakte zu seinem Hof zu knüpfen. Wie es weiter heißt, will sie Johannes Presbyter um Beistand im Kampf um das Königreich bitten.«
»Sieh an.« Der Gesandte nickte. »Werdet Ihr mir nun Glauben schenken, Graf Raymond?«
Raymond nickte widerstrebend, während er sich das bärtige Kinn rieb. »Das muss ich wohl, zumal der Brief aus verlässlicher Quelle stammt.«
»Es spricht für Euren Edelmut, Graf Raymond, dass Ihr den Absender des Briefes nicht beim Namen nennen wollt«, erkannte der Besucher an. »Schließlich könnte es der Schwester der Königin zum Schaden gereichen, wenn bekannt würde, dass sie in engem Kontakt mit Euch steht.«
Raymond blieb wie angewurzelt stehen. »Woher wisst Ihr?«, entfuhr es ihm voller Verblüffung.
Der Vermummte lachte nur. »Schon am Tag meiner Ankunft sagte ich Euch, dass ich manches weiß, Graf Raymond. Dinge, die Euch und Euren Plänen nützlich sein können.«
»Und denen Eures Auftraggebers«, fügte Raymond hinzu.
Der andere blickte ihn unverwandt an. »Ihr wisst, wer mein Auftraggeber ist«, erwiderte er. »Ihr selbst habt ihn kennengelernt, als Ihr als Gefangener in der Gewalt Nur ad-Dins weiltet, von Euren eigenen Leuten verlassen.«
»Wohl wahr«, gestand Raymond ein. »Zehn Jahre lang verbrachte ich in der Obhut des Atabegen, als dessen Heerführer Saladin und sein Oheim Sirkuh dienten. Obschon ich ein Gefangener war, behandelte man mich zu jeder Zeit mit Achtung und Respekt, und ich durfte nicht nur manches Wunder der orientalischen Welt kennenlernen, sondern auch herausragende Männer, die unseren christlichen Rittern an Tugend und Tapferkeit in nichts nachstehen, unter ihnen auch Saladin selbst. Mein Zusammentreffen mit ihm ist mir deshalb in guter Erinnerung.«
»Auch Fürst Saladin hat das Treffen mit Euch in guter Erinnerung behalten«, versicherte der Besucher, »deshalb hat er mich als Euren sadîq , Euren freundschaftlichen Berater, zu Euch geschickt. Zum einen, um Euch von den Intrigen Eurer Feinde zu berichten. Zum anderen, um Euch zu sagen, dass Ihr nicht allein seid in Eurem Kampf.«
»In meinem Kampf?« Raymond strich eine Strähne seines blonden Haars aus dem Gesicht, dessen Wuchs bereits schütter war. »Es gibt keinen Kampf mehr. Die Frage, wer über Jerusalem gebieten soll, ist längst entschieden.«
»Wäre es so, wie Ihr sagt, würde die Königin sicher nicht die Unterstützung eines fremden Potentaten suchen.«
»Dennoch hat der Adelsrat für Sibylla gestimmt«, beharrte der Graf auf seinem Standpunkt.
»Weil er getäuscht wurde.« Einmal mehr ließ der Gesandte durchblicken, wie umfassend informiert er war. »Die Entscheidung der Königin, Guy de Lusignan zu ihrem Gemahl und damit zum Herrscher von Jerusalem zu machen, hat jedoch vielen missfallen. Wähnte sie die Krone sicher auf ihrem Haupt, würde sie wohl kaum derart verzweifelte Maßnahmen ergreifen, um neue Verbündete zu gewinnen.«
»Ihr haltet die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs für verzweifelt?« Raymond schürzte die Lippen. Er hatte
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