Das verschollene Reich
fiel auf den strohbedeckten Boden.
Die buschigen Brauen kritisch zusammengezogen, betrachtete Kathan das Ergebnis seiner Bemühungen. Das Birkenholz, das er in seinen Pranken hielt, war zu feucht, um etwas daraus zu schnitzen. Außerdem taugte weder der Dolch besonders gut für Schnitzarbeiten, noch hatte Kathan eine rechte Begabung dafür. Das letzte Mal hatte er es vor undenklich vielen Jahren versucht, in einer Zeit und Welt, die weit hinter ihm lag. Zumindest hatte er das angenommen.
Um nicht erneut dem rauen Wetter ausgesetzt zu sein, hatten sie bei einem Bauern Obdach gesucht, der ihnen den Wohnraum seines Hauses zur Verfügung gestellt hatte, während er selbst und seine Familie nebenan bei den Tieren schliefen. Der Geruch von Rauch und Stall, der das Innere der Hütte tränkte, war schwer zu ertragen, aber es war besser, als eine weitere Nacht unter freiem Himmel zu verbringen, zumal erneuter Schneefall eingesetzt hatte.
Das Kind schlief bereits. Nachdem es in den ersten Tagen kaum gesprochen oder Nahrung zu sich genommen hatte, schien es sich allmählich ein wenig zu beruhigen, was Kathan auf seltsame Weise Genugtuung verschaffte. Der Templer saß an der Feuerstelle des Hauses und versuchte im unsteten Schein der Flammen, dem Holzklötzchen in seiner Hand eine Figur zu entlocken. Weshalb er sich ausgerechnet für ein Pferd entschieden hatte, wusste er nicht zu sagen. Es war sein erster Gedanke gewesen, für den er sich inzwischen schon mehrfach verwünscht hatte – denn was sich da unter den unbeholfenen Schnitten seines Messers aus dem Klötzchen schälte, sah mehr wie ein Kamel aus. Jedenfalls hatte es mehrere Buckel.
»Was soll das, Kathan?«, fragte Mercadier in die Stille.
Der Waffenbruder hockte auf der anderen Seite des Feuers auf einem Schemel. Er war dabei, sein Schwert zu ölen, um es vor Feuchte und Rost zu schützen. Gaumardas war draußen und hielt Wache. Seit dem Zwischenfall im Wald hatte er kaum ein Wort gesprochen und suchte die Einsamkeit.
»Was meinst du?«
»Das Ding da.« Mercadier deutete mit dem Kinn auf die Schnitzarbeit.
»Was ist damit?«
Der andere schnitt eine Grimasse, um klarzumachen, dass Kathan ihn nicht zum Narren halten sollte. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du vorsichtig sein sollst, Bruder«, brachte er in Erinnerung.
»Nichts anderes habe ich vor.«
»Nichts anderes? Indem du ihr einen Elefanten schnitzt?«
Kathan betrachtete das Gebilde in seiner Hand. »Es ist ein Pferd.«
»Wie auch immer – du solltest das nicht tun.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht deine Aufgabe ist, dich um dieses Mädchen zu kümmern. Und weil sie eine Hexe ist.«
Kathan wandte den Blick und betrachtete das Kind, das auf dem Boden lag und schlief. Anders als am Tage waren die feinen Gesichtszüge weich und entspannt, wirkten auf eine Weise unschuldig, die Kathan berührte.
»Das ist noch nicht erwiesen«, sagte er trotzig und wandte sich wieder seiner Schnitzarbeit zu. Die Buckel mussten entfernt werden!
»Nein? Hast du vergessen, was unser Auftrag ist?«
»Nein, Bruder«, versicherte Kathan. »Aber bis jetzt hat dieses Kind nichts getan, was den Verdacht, dass sie eine Seherin ist, erhärten würde. Nicht sie, sondern wir sind es, die sich benehmen, als wären sie von Gott verlassen.«
»Du solltest solche Worte nicht unbedacht aussprechen. Hast du vergessen, welchen Kampf wir als Ritter vom Tempel Salomonis führen? Dass wir das letzte Bollwerk sind im Kampf gegen die Finsternis? Dass es unsere Aufgabe ist, die Christenheit zu beschützen?«
»Das habe ich nicht vergessen. Nur sehe ich nicht, was das alles mit diesem Kind zu tun haben soll.«
»Wirklich nicht?« Mercadier legte den Kopf schief und schaute ihn prüfend an. »Vielleicht hat Gaumardas ja recht.«
»Womit?«
»Was denkst du, weshalb wir dieses Kind finden sollten?«
»Von einem Kind war nie die Rede«, knurrte Kathan. »Es hieß, wir sollten eine Seherin finden.«
»Dann lass mich anders fragen: Was denkst du, weshalb wir diese Seherin finden sollten?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Kathan, »und offen gestanden schert es mich auch nicht. Ich bin dem Orden beigetreten, um zu kämpfen und zu dienen. Nicht, um mir den Kopf über Dinge zu zerbrechen, von denen ich nichts verstehe.«
»Dann will ich es dir sagen, Bruder: Wir sollen die Seherin finden und nach Metz bringen, weil sie in der Lage ist, die Zukunft zu sehen! Wie es heißt, hat sie das Debakel von Damietta vorausgesagt und ebenso
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