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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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den Brief, den ein christlicher Herrscher von jenseits des Orients dem Kaiser von Byzanz geschickt haben sollte, bislang für ein Hirngespinst gehalten. Wenn Sibylla jedoch ihre Hoffnungen darauf setzte …
    »Das vermag ich nicht zu beurteilen, Herr«, entgegnete der andere so bescheiden wie vorsichtig. »Ich weiß nur, dass die Königin nicht nach Verbündeten suchen würde, wenn sie derer nicht dringend bedürfte. Sogar ihre eigene Schwester scheint sich gegen sie gewandt zu haben. Wenn sich also jemand fände, der über die nötige Macht und den erforderlichen Einfluss verfügt, um ihr und ihrem Gemahl entschieden entgegenzutreten …«
    »Was versucht Ihr mir einzureden, Mann?«, fiel Raymond dem Berater barsch ins Wort. »Dass ich mich offen gegen Jerusalem stellen und das Königreich auf diese Weise schwächen soll? Das käme Eurem Auftraggeber fraglos gelegen.«
    »Ihr solltet Fürst Saladin gut genug kennen, um zu wissen, dass er nicht auf Verschlagenheit setzt und auf Pläne, die im Verborgenen geschmiedet werden. Er hat mich zu Euch gesandt, weil er Euch schätzt und Euch seine Freundschaft anbietet – und weil er nicht will, dass die Heilige Stadt von einem König regiert wird, der ihrer nicht wert ist.«
    »Ich weiß Saladins Ansinnen zu schätzen«, versicherte Raymond. »Jedoch war ich Sibyllas Vater Amalric stets treu ergeben und bin trotz aller Differenzen dem Königshaus Jerusalem noch immer verbunden.«
    »Daran zweifeln weder Fürst Saladin noch ich. Aber Euch muss auch klar sein, dass Sibylla Euch zu ihren Feinden rechnet, obschon Ihr zugunsten ihres Gemahls auf Euren Machtanspruch verzichtet habt.«
    Raymond schnaubte. »Guy ist ein Schafskopf, ein Emporkömmling, der auf der Suche nach schnellem Glück ins Heilige Land gekommen ist. Die Ideale, die unsere Ahnen hierher geführt, und die Opfer, die sie dafür gebracht haben, sind ihm gleichgültig. In seinen Plänen ist er ebenso beschränkt wie vorhersehbar – für ihn ist dieses Land nur dazu da, ihm seinen Reichtum abzupressen.«
    »Wie wahr«, stimmte der Gesandte zu, »die eigentliche Gefahr geht von Sibylla aus. Lusignan ist nur der Arm, sie jedoch ist der Kopf, und sie würde alles tun, um ihre Macht zu festigen und ihre Gegner zu vernichten, nötigenfalls auch mithilfe eines neuen Verbündeten. Deshalb, Herr, solltet auch Ihr Euch überlegen, wer Eure Verbündeten sind.«
    Raymond, der erneut in der Kammer auf und ab gegangen war, das zusammengerollte Schriftstück in der geballten Rechten, blieb stehen. Sosehr es ihm widerstrebte – der von Saladin geschickte Berater hatte recht. Über viele Jahre hinweg hatte er vergeblich versucht, Sibyllas Vertrauen zu gewinnen, und dabei stets nur Ablehnung geerntet. So wie damals, als sie auf seine Vermittlung hin Guillaume de Montferrat geheiratet hatte, um die Thronfolge des Hauses Jerusalem zu sichern. Schon kurz nach der Hochzeit war Guillaume auf mysteriöse Weise gestorben, und Sibylla hatte sich bald darauf Guy de Lusignan zugewandt. Aus alter Verbundenheit zu ihrem Vater hatte Raymond sich damals geweigert, das Offensichtliche zu sehen. Inzwischen jedoch kam er nicht umhin, sich der Wahrheit zu stellen – dass Sibylla und ihr ehrgeiziger Gemahl alles daransetzten, ihre Gegner zu vernichten und ihre Macht zu festigen.
    Noch einmal betrachtete er das Schreiben in seiner Hand. »Ich werde über Fürst Saladins Freundschaftsangebot nachdenken«, erklärte er schließlich, »nur verratet mir eines.«
    »Was immer Ihr wissen wollt, Herr.«
    »Laut Lady Isabelas Brief hat die Expedition Jerusalem erst vor wenigen Tagen verlassen. Wie konntet Ihr bereits davon wissen? Ihr seid doch die ganze Zeit über hier gewesen?«
    »Sehr einfach, Graf Raymond«, erklärte der Berater ohne Zögern, »ich wusste es, weil mir vor drei Tagen ein Bote dies hier überbrachte.« Damit reichte er dem Grafen ein flaches, aus Olivenholz gefertigtes Kästchen, wie es zur Aufbewahrung von Schreibzeug verwendet wurde. Raymond nahm es verblüfft entgegen und öffnete es.
    Eine goldfarbene Feder lag darin.
    »Was ist das?«, wollte er wissen.
    »Der Schlüssel zu Eurem Triumph«, entgegnete der Berater lächelnd. »Denn in den Händen der Schwester der Königin wird diese Feder fürwahr mächtiger als jedes Schwert.«

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22
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    »Ihr sollt nicht Wahrsagerei noch Zeichendeuterei betreiben.«
    Leviticus, 19,36
    Nordfrankreich
28. November 1173
    Ganz langsam schnitt die Klinge durch das Holz, und ein weiterer Span

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