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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Laut der Verblüffung entfuhr ihm, als er erkannte, dass es Cassandra war. Wie er trug auch sie Tunika und Mantel, um sich vor der Kühle der Nacht zu schützen. Im Vertrauen auf die Dunkelheit hatte sie allerdings darauf verzichtet, das Kopftuch umzulegen. Ihr langes, im Mondlicht violett schimmerndes Haar umwehte ihre Züge, während sie nur dasaß und in den nächtlichen Himmel starrte, den Blick in weite Ferne gerichtet. Sie schien so damit beschäftigt, das Firmament zu beobachten, dass sie Rowan selbst dann noch nicht bemerkte, als er sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hatte.
    »Cassandra?«
    Sie reagierte noch immer nicht.
    »Cassandra?«
    Er stand nun unmittelbar vor ihr, und da sie die Augen offen hatte, hätte sie ihn fraglos bemerken müssen.
    Doch die junge Frau, die ihre Erinnerung irgendwo in der Wüste verloren hatte, reagierte auch weiterhin nicht.
    Ihr Blick blieb in die Ferne gerichtet – und mit einem Anflug von Unbehagen fragte sich Rowan, was sie dort wohl sehen mochte.

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27
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    »Ihr alle, die ihr Feuer anzündet und Brandpfeile entflammt, geht hin in die Flamme eures Feuers und in die Brandpfeile, die ihr entzündet habt!«
    Jesaia 50,11
    Nordfrankreich
30. November 1173
    Unter dem harsch gefrorenen Schnee war die Straße kaum zu erkennen: ein flaches Band, das sich an einem schmalen Wasserlauf entlang durch ein enges, von dichtem Wald gesäumtes Tal wand.
    Nur noch zwei Tagesritte waren sie von Metz entfernt, dann endlich würden sie ihre Mission erfüllt und ihre Ehre wiederhergestellt haben. Zwar gab sich Kathan keinen Illusionen hin – in diesem Jahr würden sie nicht mehr nach Jerusalem zurückkehren, die Stürme, die zu dieser späten Jahreszeit über das Meer fegten, verhinderten dies. Sie würden den Winter auf einer der Ordensburgen verbringen – im Frühjahr jedoch würden sie aufbrechen und wieder dorthin zurückkehren, wo sie ihrer eigentlichen Bestimmung folgten.
    Kathan konnte es kaum erwarten. Nicht nur den Schnee und die Kälte wollte er hinter sich lassen, sondern auch das, was er in den vergangenen Wochen und Monaten gesehen und erlebt hatte. Den Schmutz, das Elend, das Unrecht – und das Blut.
    Wenn der Templer an sich herabschaute, konnte er die beiden dünnen Arme sehen, die sich von hinten um seine Hüfte schlangen. Doch ungleich mehr als ihre Umklammerung spürte er den Druck auf sich lasten, die Verantwortung, die er sich ohne Not aufgebürdet hatte. Mercadier hatte recht gehabt. Es war nicht seine Aufgabe, sich um dieses Kind zu kümmern. Alles, was sie zu tun brauchten, war, es unversehrt nach Metz zu bringen, damit hatten sie ihre Schuldigkeit getan. Alles andere würde nur zu weiteren Verwicklungen führen, würde Schmerz auslösen, den Kathan niemals wieder in seinem Leben hatte fühlen wollen. Aber eine innere Stimme sagte ihm, dass es dazu bereits zu spät war.
    Je weiter sie dem Flusslauf folgten, desto näher rückten die Anhöhen zu beiden Seiten heran, und schließlich verengte sich das Tal zu einer Schlucht. Felsen, auf denen sich weiß gekrönte Tannen wie einsame Wächter erhoben, türmten sich zu beiden Seiten. Es wurde dunkel und noch kälter. Auf dem Grund der Schlucht war kaum Schnee gefallen, sodass graubrauner, erstarrter Morast die Straße überzog. Mehrere Fährten waren darin eingefroren, die Spuren schäbiger Schuhe, dazu die Hufabdrücke eines Maultiers oder Pferdes, das in ziemlich elendem Zustand gewesen sein musste, denn sie lagen eng beieinander.
    Schon kurz darauf bestätigte sich Kathans Vermutung: Am rechten Wegrand fanden sie den Kadaver eines Maultiers. Seine Besitzer hatten das Tier, nachdem es offenbar zusammengebrochen war, aufgeschnitten und seines spärlichen Fleisches beraubt. Die Krähen, die jetzt darauf saßen und verschreckt aufflatterten, als sich die Templer näherten, waren dabei, sich den Rest zu holen.
    »Kathan?«
    Er erstarrte innerlich. Es war das erste Mal, dass ihn das Mädchen mit Namen ansprach. Erneut schalt er sich einen Narren.
    »Was gibt es?«
    »Gefahr«, sagte sie nur.
    »Unsinn«, widersprach er barsch, »das bildest du dir nur ein. Gewiss, dies ist ein düsterer Ort, aber …«
    »Ich kenne ihn«, flüsterte sie.
    »Du bist schon einmal hier gewesen?«
    »Nein … ja«, erwiderte sie. »Ich habe davon geträumt.«
    Den Ordensregeln zum Trotz stieß Kathan eine Verwünschung aus. Von allen möglichen Antworten hatte er diese am wenigsten hören wollen.
    »Wir sind in Gefahr«, wiederholte

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