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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Sibylla zur Kenntnis, dass ihr Gemahl nun endlich die Eigenschaften eines Anführers an den Tag legte. »Wenn wir in den Krieg ziehen, dann doch nur, um uns und unseren Glauben zu verteidigen! Wir kämpfen nicht, weil wir es wollen, sondern weil wir müssen. Und alles, was ich von Euch wissen will, ist, ob Ihr, wenn es so weit ist, das Schwert für Euren König und Lehnsherrn ziehen werdet!«
    Allenthalben wurde Zustimmung geäußert. Es bereitete Sibylla einige Genugtuung, dabei zuzusehen, wie Humphrey unter dem Druck der Menge noch weiter nachgab – und schließlich zusammenbrach.
    »Natürlich, mein König«, erwiderte er. Dann zog auch er seine Klinge und erneuerte gebeugten Hauptes seinen Treueschwur.
    Wieder blickte Sibylla zur Balustrade hinauf – nur um festzustellen, dass ihre Schwester verschwunden war. Ein zufriedenes Lächeln glitt daraufhin über die Züge der Königin.
    Zumindest einen Sieg hatte sie bereits davongetragen.

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26
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    »Wenn du die Sterne am Himmel und den Sand am Meere zu zählen vermagst, bestimme auch unser Reich und unsere Macht.«
    Brief des Johannes Presbyter, 327 – 329
    Oase Hamaymah
Nacht zum 26. Februar 1187
    Rowan war verzweifelt.
    Seine Augen schwammen in Tränen.
    Wann immer er daran denken musste, wie man ihn von der Seite seiner Mutter gerissen und sie brutal niedergeschlagen hatte, stürzte er in einen Abgrund der Trauer, und er fühlte sich so einsam, so hilflos und ausgeliefert, dass er am ganzen Körper zu zittern begann.
    »Was hast du?«
    Die Stimme Robert de Morvaies drang nur wie aus weiter Ferne an Rowans Ohr. Während des gesamten Ritts hatte er versucht, die Verzweiflung niederzukämpfen und das Bild seiner reglos am Boden liegenden Mutter loszuwerden.
    Vergeblich.
    »Willst du dich wohl zusammennehmen?« Der Sheriff, in dessen strengen Zügen sich die seines Sohnes in keiner Weise widerspiegelten, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Was soll das Geheule eines Weibes wegen?«
    »Sie … sie ist meine Mutter«, erklärte Rowan schluchzend.
    »Und ich bin dein Vater«, konterte Robert unnachgiebig, »und als solcher befehle ich dir, augenblicklich mit dem Geflenne aufzuhören. Soll die Welt denken, dass ich eine Memme zum Sohn habe?«
    Rowan schluckte hart und versuchte mit aller Gewalt, die Tränen zurückzuhalten, schon allein damit der Mann, der sich sein Vater nannte, aufhörte, ihn zu schütteln.
    »Es kommt der Tag«, kündigte der Sheriff im Brustton der Überzeugung an, »da du mir dankbar sein wirst. Abt Odo hat zugesagt, dich aufzunehmen. Bei den Mönchen von Melrose wirst du nicht nur Demut und Gehorsam lernen, sondern auch lesen und schreiben sowie viele andere Dinge, mit denen du deiner Familie nützlich sein kannst.«
    »Und – meine Mutter?«
    »Die Frau, die dich geboren hat, solltest du schnell vergessen. Ich bin dein Vater, und du solltest mir von Herzen dafür dankbar sein, dass ich dich aus all dem Elend und dem Dreck befreie, in dem du andernfalls leben müsstest, als ein ungehobelter Bauer, der weder Bildung noch Manieren kennt.«
    Rowan hatte es tatsächlich irgendwie geschafft, die Tränen zum Versiegen zu bringen. Die Augen krampfhaft geschlossen, nickte er – während er sich gleichzeitig schwor, dass er diesem Scheusal niemals, niemals dienstbar sein wollte!
    »Wenn du an dieser Haltung nichts änderst«, fuhr Sir Robert fort, als könnte er Rowans Gedanken lesen, »wirst du niemals etwas anderes sein als ein niederer Diener. Du wirst dein Leben lang gegen deine Meister aufbegehren, jedoch niemals eine Heimat finden. Ruhelos wirst du umherstreifen, wirst fremde Länder und ferne Orte sehen – und erst dort, mein Junge, wirst du deine Bestimmung finden.«
    Verblüfft nahm Rowan zur Kenntnis, dass sich die Stimme seines Vaters verändert, dass sie einen warmen und weichen Klang angenommen hatte. Überrascht öffnete er die Augen – aber es war nicht mehr der gestrenge Vater, der vor ihm stand, sondern Bruder Cuthbert!
    Der Augenblick, in dem Rowan klar wurde, dass sich ein Mensch nicht plötzlich in einen anderen verwandeln kann, war der Augenblick, in dem er erwachte. Das Traumbild zerbrach, und durch die Splitter trat die Wirklichkeit hervor – in Form einer kleinen Schlafkammer, die er zusammen mit Bruder Cuthbert bewohnte und die sich im oberen Stockwerk einer an der Seidenstraße gelegenen Karawanserei befand.
    Mondlicht fiel durch das winzige Fenster und beleuchtete die Einrichtung, die nach

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