Das verschollene Reich
gab es einen Priester, der …«
»Und wie steht es im ersten Buch Samuel zu lesen?«, fiel de Lacy ihm schneidend ins Wort. »›Ungehorsam ist ebenso Sünde wie Wahrsagerei‹, heißt es dort. Ob es Euch gefällt oder nicht, Bruder: Dieses Kind ist gerade so sündhaft wie jemand, der die Existenz des Herrn verleugnet und an falsche Propheten glaubt. Doch ich werde dir Gelegenheit geben, dich vor dem Herrn zu reinigen«, wandte er sich direkt an das Mädchen und nickte ihm auffordernd zu, »denn genau wie Phoebe wirst du mir alles verraten, was du über die Zukunft weißt, das unbekannte Morgen. Hast du mich verstanden?«
»Herr?«, hauchte das Mädchen, das viel zu verängstigt und eingeschüchtert war, um auch nur irgendetwas von dem zu erfassen, was der Mann in der dunklen Robe sagte.
Ein Lächeln spielte um die Züge des praeceptors , das Kathan ganz und gar nicht gefallen wollte. »Du wirst mich verstehen, Kind. Wenn du mich erst richtig kennengelernt hast, wirst du mich verstehen.«
»Mit Verlaub, Meister«, ergriff Kathan ungefragt das Wort, »sie hat viel durchgemacht. Ihr müsst nachsichtig sein.«
»Muss ich das?« De Lacy bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick. »Mir will scheinen, Bruder, dass ich allein in dieser Sache zu urteilen habe. Auch der Großmeister unseres Ordens scheint das so zu sehen, und ich würde Euch in Eurer Lage nicht raten, sein Urteil anzuzweifeln. Schließlich seid Ihr auf unser Wohlwollen angewiesen, nicht wahr?«
»Natürlich, Meister praeceptor «, versicherte Mercadier, noch ehe Kathan etwas sagen konnte. »Unser Bruder Kathan neigt dazu, allzu viel Mitgefühl für jene aufzubringen, denen es nicht zukommt. Eine Folge der Ereignisse von Damietta.«
»Ja.« Der geringschätzige Ausdruck verschwand für einen Moment aus de Lacys Zügen und machte so etwas wie Verständnis Platz. »Es ist schlimm zu sehen, was Folter und Entbehrung aus einem aufrechten Streiter machen können.«
»Ihr wisst …?«
»Der Großmeister hat mir alles berichtet. Von Eurem Auftrag, von Eurer Gefangennahme, Eurer Kerkerhaft und Eurer angeblichen Flucht.«
»Nicht angeblich«, stellte Mercadier klar.
»Nun«, meinte de Lacy gelassen, »deshalb seid Ihr hier, nicht wahr? Um Eure Lauterkeit zu beweisen und Euren Ruf wiederherzustellen.«
»Und?«, wollte Mercadier wissen. »Ist es uns gelungen?«
»Wir werden sehen. Der Entscheidung des Großmeisters zufolge, obliegt es mir allein, darüber zu urteilen, ob dieses Kind tatsächlich über besagte Fähigkeiten verfügt und ob es weiß, was wir zu erfahren begehren. Danach werden wir sehen, was mit Euch geschieht.«
»Aber, bei allem Respekt, Bruder praeceptor , das war nicht Teil unserer Abmachung«, widersprach Mercadier. »Unser Auftrag bestand lediglich darin, die Seherin zu finden und Eurer Obhut zu übergeben. Oder wollt Ihr uns unterstellen, wir würden Euch hintergehen?««
»So etwas läge mir fern, Brüder«, versicherte de Lacy mit einem Lächeln, das seine Worte Lügen strafte, »doch verfügt Ihr beide nicht über die Kenntnisse, die nötig sind, um eine Fabulantin von einer Wahrsagerin zu unterscheiden. Unser guter Bruder Kathan jedenfalls scheint Zweifel zu hegen, was ihre Fähigkeiten betrifft.«
Kathan erwiderte nichts darauf und starrte weiter zu Boden, doch er fühlte den vorwurfsvollen Blick, den Mercadier ihm zuwarf.
»Zieht Euch jetzt zurück«, ordnete der Vorsteher der Komturei an, »das Kind lasst hier. Ich werde herauszufinden versuchen, ob es sich um eine Phoebe oder um eine Heuchlerin handelt, ob sie eine Dienerin der Wahrheit oder vom Dämon der Lüge besessen ist. Und bei den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, dürft Ihr mit einer schnellen Entscheidung rechnen.«
»Verstanden, Meister«, entgegnete Mercadier.
»Das ist alles.«
Sie waren entlassen. Kathan fühlte bleierne Schwere auf seinem Herzen. Dies war der Augenblick, vor dem er sich die ganze Zeit über gefürchtet hatte.
Nicht davor, angeklagt und in Ketten gelegt zu werden, denn er hatte nur getan, was seine Überzeugung war und wozu sein Gewissen ihm geraten hatte. Sondern davor, fortzugehen und das Kind allein zurückzulassen. Hätte man ihn abgeführt, so hätte er nichts dazugekonnt. Nun musste er es selbst tun, aus eigenem Willen.
Sie schien es zu wissen, denn sie wandte sich zu ihm um, und er hatte das Gefühl, in ihre Augen zu stürzen, die aus dunklen Abgründen zu ihm emporblickten, von Tränen gerötet und unendlich
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