Das verschollene Reich
Herz, er war sofort tot.«
Kathan schaute seinen Waffenbruder von der Seite an. Warum in aller Welt sagte Mercadier nicht die Wahrheit?
Alles in Kathan empörte sich dagegen. Er wollte so nicht leben, geschirmt von einer Lüge. Was er getan hatte, hatte er getan, weder ließ es sich ungeschehen machen, noch wollte er sich seiner Verantwortung entziehen. Er holte also tief Luft, um Mercadier entschieden zu widersprechen und dem praeceptor mitzuteilen, was sich tatsächlich auf jener Waldlichtung abgespielt hatte – doch in diesem Moment traf ihn der Blick des Mädchens, das bei ihm stand und sich furchtsam an ihn drängte.
Warnend.
Flehend.
Und Kathan biss sich auf die Lippen.
Der Wahrheit zum Trotz.
»Das ist bedauerlich« war alles, was Hugh de Lacy zu Gaumardas’ Ableben zu sagen hatte. »Aber natürlich wissen wir alle, dass der Waffendienst für den Herrn auch Opfer fordert. Wir werden also für unseren Bruder beten. Für sein Seelenheil hat er ja durch seine Lebensweise auf Erden und seinen Einsatz für unsere Sache bereits gesorgt.«
Mercadier widersprach nicht, und Kathan biss sich weiter auf die Lippen. Er war nicht in der Position zu widersprechen.
»Und das ist das Balg?«
De Lacy deutete auf das Mädchen, das sich daraufhin nur noch dichter an Kathan drängte. Er konnte nicht anders, als zumindest eine Hand auf ihre schmächtige Schulter zu legen. Dabei konnte er spüren, wie das Kind zitterte.
»In der Tat, Meister«, bestätigte Mercadier.
»Tritt vor, Kind«, forderte de Lacy, und zum ersten Mal erhob er sich aus seinem aus Ebenholz gefertigten Stuhl, der offenbar ein Geschenk aus dem Morgenland war. Dunkel und drohend wie ein Schatten wuchs die feiste Gestalt des praeceptors hinter dem Tisch empor.
Das Mädchen begann leise zu weinen. Ängstlich suchte es sich hinter Kathan zu verstecken, schien die Bedrohung, die von de Lacy ausging, instinktiv zu spüren.
»Was ist mit dem Kind?«, verlangte der Vorsteher der Komturei von Metz zu wissen. »Warum zeigt es sich nicht?«
Kathan wusste, dass jede Erklärung überflüssig gewesen wäre und nur de Lacys Zorn erregt hätte. Also trat er kurzerhand beiseite und schob das Mädchen nach vorn, sanfte Gewalt gebrauchend. Widerwillig ging das Kind einige Schritte, dann blieb es stehen, als wäre es am steinernen Boden angewurzelt.
De Lacy musterte es kritisch, die Mundwinkel verächtlich herabgezogen. »So«, sagte er nur, »du bist das also. Du bist schön, mein Kind, schön wie die Sünde und voller Verderbtheit. Nun, da ich dich sehe, zweifle ich keinen Augenblick daran, dass du das bist, wofür du gehalten wirst.«
»Mit Verlaub, Meister praeceptor , das ist nicht erwiesen«, wandte Kathan ein, der hinter das Kind getreten war, wobei er selbst nicht wusste, ob er es an der Flucht hindern oder ihm Mut machen wollte.
»Da bin ich anderer Ansicht«, widersprach Mercadier. »Jener Überfall, in dessen Zuge unser Bruder Gaumardas getötet wurde, hätte auch uns das Leben gekostet, wenn wir nicht gewarnt worden wären.«
»Gewarnt? Von wem?«
»Von diesem Kind hier«, antwortete Mercadier ohne Zögern. Seine Bereitschaft zur Unwahrheit schien sich nur auf Kathan zu beziehen, nicht aber auf das Mädchen.
De Lacy schaute das Kind so bohrend und durchdringend an, dass Kathan innerlich schauderte. Was, bei allen Heiligen, musste dieses Kind noch ertragen?
Plötzlich entspannten sich die Züge des praeceptors , sein Augenspiel wurde milder. »Wie heißt du?«, wollte er von dem Mädchen wissen.
Kathan blickte betreten zu Boden. Die ganze Zeit über hatte er das Kind nicht nach seinem Namen gefragt.
Namen bedeuteten Vertrauen.
Bedeuteten Nähe.
Bedeuteten Schmerz.
So wie jene drei Namen, die er in ein Holzkreuz geritzt hatte, in einem anderen Leben, vor undenklich langer Zeit.
Das Mädchen flüsterte eine Antwort, die nicht zu verstehen war.
»Was?«, hakte de Lacy so energisch nach, dass das Kind zusammenzuckte. »Du musst lauter sprechen, wenn ich dich verstehen soll! Aber lass nur«, fügte er hinzu, noch ehe das Mädchen ein zweites Mal antworten konnte, »ich denke, ich habe einen Namen, der noch besser zu dir passt als alle anderen, die dir gegeben wurden. Ich werde dich Phoebe nennen, nach der heidnischen Göttin der Hellsicht, an die die alten Hellenen glaubten. Denn heidnisch bist auch du und deine ganze sündige Existenz!«
»Mit Verlaub, Meister«, widersprach Kathan, »das Kind ist nicht heidnisch. In dem Dorf, in dem es lebte,
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