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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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traurig.
    Hilflos.
    »Komm, Bruder.«
    Mercadier legte seine Hand auf Kathans Schulter und drehte ihn herum, Kathan ließ es widerstandslos geschehen. Im Umdrehen erheischte er noch einen letzten Blick auf ihre kleine, zerbrechlich wirkende Gestalt, dann wankte er der Tür entgegen.
    »Kathan!«
    Er hörte ihre tapsenden Schritte, spürte, wie sie ihre dünnen Arme um ihn schlang, weinend, schluchzend.
    »Was soll das?«, rief de Lacy verärgert. »Warum benimmt sich das Kind so seltsam? Will es meinen Unmut erregen?«
    Kathan reagierte nicht, wissend, dass er alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Er überließ es Mercadier, das Kind von ihm zu reißen und seinem neuen Herrn entgegenzustoßen, dann ging er hinaus. Mit dumpfem Poltern fiel die Tür ins Schloss, das Schluchzen des Kindes verstummte.
    Kathan holte tief Luft, aber er atmete keine Freiheit.
    Sondern nur entsetzliche Leere.

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6
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    »Wer Streit anfängt, ist wie einer, der Wasser ausbrechen lässt.«
    Sprüche 17,14
    Grenzland nahe Kerak
März 1187
    Ein Lächeln der Genugtuung huschte über die rotbärtigen Gesichtszüge, und die kleinen Augen unter dem Helm blitzten vor Angriffslust.
    Auf eine Gelegenheit wie diese hatte er gewartet.
    Eine Karawane sarazenischer Händler.
    Kein Geleitschutz durch Soldaten.
    Nur eine Handvoll Bewaffneter.
    Ein geringes Risiko.
    Als Raynald de Chatillon das Zeichen zum Angriff gab, tat er es im vollen Bewusstsein dessen, was er damit heraufbeschwören würde. Die Zeit des Zauderns und der endlosen Verhandlungen war zu Ende. Taten mussten folgen, wenn dieses Land von der heidnischen Brut gesäubert werden sollte. Ohnehin hatten sie schon zu lange gewartet, hatten untätig zugesehen, während Saladins Macht beständig gewachsen war. All dies musste ein Ende haben, und Chatillon war gekommen, um dieses Ende herbeizuführen.
    Sein Schwertarm fiel herab, und die Reiterei, die sich zur Hälfte aus seinen eigenen Leuten, zur anderen Hälfte aus Templern zusammensetzte, brach aus ihrem Versteck hinter dem Höhenzug hervor, preschte zum schmalen Grat hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, jagte auf die Karawane zu.
    Vom Rücken seines Pferdes aus verfolgte Chatillon das Schauspiel. Wie eine Horde aufgescheuchten Federviehs spritzte die eben noch so geordnete Kolonne auseinander, als die christlichen Kämpfer auf donnernden Hufen heransprengten. Jene, die an der Spitze des Zuges ritten, ergriffen die Flucht. Sie würden den Bogenschützen, die Chatillon in weiser Voraussicht ein Stück weiter nördlich postiert hatte, geradewegs in die Arme laufen. Einige Kamele und Maultiere gingen durch. Unter lautem Geschrei versuchten die Treiber sie zurückzuhalten. Und eine Handvoll Reiter, die den Zug begleiteten, zückten ihre gekrümmten Klingen und stellten sich dem Ansturm der Panzerreiter entgegen.
    Chatillon wusste nicht, ob er sie für ihren Mut bewundern oder für ihre Dummheit verachten sollte, denn keiner von ihnen überlebte den Ansturm, die Kämpfer von Jerusalem ritten sie einfach nieder. Blut besudelte den Sand, Gliedmaßen wurden durchtrennt, Männer unter stampfenden Hufen zermalmt. Im nächsten Moment hatten die Ritter die Karawane selbst erreicht und taten, was ihre Befehlshaber ihnen aufgetragen hatten … was getan werden musste, um des Schicksals und der Geschichte willen.
    Staub stieg auf, als wollte er sich barmherzig über das grausame Schauspiel legen, doch die heiseren Schreie und der Gestank des Blutes, der von der Senke aufstieg, ließen keinen Zweifel daran, was dort unten vor sich ging. Chatillon wartete in Ruhe ab, bis die Schreie weniger wurden und schließlich ganz verstummten. Und als sich der Staub wieder legte, blickte der Graf von Antiochia auf blutgetränkten Boden, auf dem der Tod reiche Ernte gehalten hatte.
    Leblose Körper übersäten die Senke: Kameltreiber in einfacher Kleidung, aber auch Kaufleute mit bunten Gewändern und seidenen Turbanen. Chatillon verachtete sie, gleichwohl empfand er keinen Triumph über ihren Tod. Es war kein ehrenvoller Sieg gewesen, auf den er stolz sein konnte oder an den sich die Nachwelt erinnern würde.
    Aber er war notwendig gewesen.
    So unausweichlich wie die Nacht, die auf den Tag folgt.
    Chatillon nickte dem Anführer seiner Eskorte zu, dann trieb er sein Pferd den Hügel hinab. Schon begannen die ersten Aasfresser über der Senke zu kreisen. Wo der Tod Einkehr hielt, da dauerte es nie sehr lange, bis sich Tischgäste einfanden.
    Die Reiter

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