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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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auf dünnem Dokumentenpapier von meinem Kind erzählen. Kurz vor der völligen Auflösung nehmen die Bilder den Charakter von flüchtig mit weichem Bleistift hingeworfenen Skizzen an. Ich lege eine Arbeit über Schillers Don Carlos dazu, so wie ich sie, als ich noch studierte, im Seminar vorgetragen hatte, nichts Fertiges, ein Einblick in die Entstehung von Gedanken, mit handschriftlichen Korrekturen und Notizen am Rand. Ich lege auch einenkleinen Film dazu, den Philip S. und ich in Italien gedreht haben. Wir nennen ihn, nach Edgar Allan Poe, den »Fall des Hauses Usher«. Ein aus Sand gebautes Schloss lassen wir mit Doppelbelichtung Welle für Welle vom Meer wegspülen.
    Wieder dauert die Prüfung eine Woche. Eine Filmszene aus Hitchcocks Verdacht , in der Cary Grant mit einem Glas Milch in der Hand eine geschwungene Treppe hinaufsteigt, zerlege ich mit Hilfe von Philip S. in Sichtachsen, Ausschnittgrößen, Schnitte, Kamerapositionen und so weiter. Den kurzen Film, der auch zu den Aufgaben gehörte, drehe ich vom Gepäckträger eines Mopeds aus. Vor mir sitzt Philip S. mit einer Gummimaske über dem Gesicht. Von hinten habe ich die unheimliche, schräg im Profil angeschnittene Maske und die vorbeigleitenden Bäume und Himmelsfetzen im Bild, während wir mit einer einzigen Einstellung über einen holprigen Waldweg rasen.
    Außer einer kurzen Inszenierung gilt es auch, ein entscheidendes, den Werdegang prägendes Ereignis darzustellen. Während einige über das erste Theaterstück oder den ersten Film von Godard schreiben, schreibe ich über einen Dackel. Heute würde ich die Geschichte mit dem Dackel anders erzählen. Wahrscheinlich würde sie mich zurückbringen in die Landschaft, in der ich aufwuchs, in die Rhön mit ihren kalten Wintern, und sie würde in der Geborgenheit einer alten Burg enden, am Kachelofen, bei meiner Mutter, wie alle Geschichten meiner Kindheit. Damals aber diente die Episode dazu, mir meine Klassenlage vor Augen zu führen. Sie nahm ihren Anfang auf der grauen Kiesfläche eines Schulhofs, wo die Kinder einen Dackel ärgerten, und endete an einer Mauer, auf die sich die Kinder geflüchtet hatten, als der Dackel wütend angeschossenkam. Weder hatte ich den Dackel geärgert, noch war ich auf die Mauer geklettert. Aber mich hat er gebissen.
    In meinem Text dachte ich darüber nach, warum ich nicht auf die Mauer geklettert war. Ich hatte die Gefahr nicht erkannt. Aber warum hatte ich sie nicht erkannt? Weil ich die Wirklichkeit nicht kannte. Und ich kannte die Wirklichkeit nicht, weil ich ein idealistisches, weltfremdes Bürgerkind war, das oben auf einem Felsen in einem halbzerfallenen Gemäuer lebte und von einem Hund Gerechtigkeit erwartete.

XII
    Mit dem ersten Schnee taucht seine Mutter auf. Sie steht in Pelzhut und Mantel vor der Tür, am Arm eine Handtasche, ohne Gepäck. Als sie in der Zeitung las, dass ein Drittel der Studenten von der Filmakademie geflogen sei, hat sie sich ins Flugzeug gesetzt. Sie weiß, wo ihr Sohn wohnt, sonst weiß sie nichts. Sie kommt an einem Sonntagvormittag, um herauszufinden, ob er zu den Relegierten gehört. Sie hat sich nicht angekündigt. Als sie an der Tür klingelt und ihren Sohn mit einer verheirateten Frau und einem Kind vorfindet, steigt der Verdacht in ihr auf, dass alle, auch der zufällig anwesende Vater des Kindes, von dem Geld leben, das sie und ihr Mann monatlich für die Ausbildung an der Filmhochschule überweisen. Voller Unbehagen bewegt sie sich in dem Durcheinander aus herumliegendem Spielzeug, Büchern und alten Möbeln. Schließlich setzt sie sich auf das goldene Sofa mit den noch nicht verblassten Kugelschreiberstrichen. Von ihrem Platz aus kann sie auf die kahlen Bäume blicken, an deren Ästen Schneereste hängen. Ab und zu rattert eine schmutzige rot-gelbe S-Bahn durch den Fensterausschnitt. Während sie der verblichene Glanz in der Wohnung täuscht, sucht ihr Blick Halt an abgeplatztem Furnier und erblindeten Spiegeln. Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie die neue Umgebung ihres Sohnes luxuriös oder heruntergekommen finden soll. Sie weiß nicht, woher die Dinge stammen, die sie sieht. Es verwirrt sie. Sie hat keine Vorstellung von demeingeschlossenen Berlin, dass hier die Zeit stillsteht in riesigen Wohnungen, wo alleingebliebene alte Menschen auf den Abend und die Nacht warten, während sich der Staub über die Dinge legt, die nach ihrem Tod auf dem Sperrmüll oder im Ankauf-Verkauf landen werden. Mutter und Sohn haben sich

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