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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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tragen die Vitrine ins Wohnzimmer, stellen das mit blassen Rosen bemalte Geschirr hinein, tragen ein altes durchgesessenes Sofa hinaus, rücken das Biedermeiersofa unter ein Gemälde, das entfernt an Chagall erinnert, davor den Tisch und die Sessel.
    Für Philip S. sind es die letzten Reisen in das Haus im hessischen Ried. Er hat es immer als mein Elternhaus empfunden, auch wenn es nicht mein Elternhaus ist und ich selber Gast bin. Aber die Atmosphäre in dem kleinen Anwesen empfindet er so, wie er sich sein Elternhaus gewünscht hätte: offen, unkonventionell und an jedem interessiert,der durch die Gartenpforte kommt. Gespräche nehmen einen großen Teil des Tages in Anspruch. Sie beginnen beim Frühstück, wenn der Mann meiner Mutter ab und zu aufsteht, um einen Ausstellungskatalog zu holen oder ein Buch, das er gerade erwähnt hat. Vor und nach dem Mittagessen ruht er sich ein wenig von den Gesprächen aus, um sie beim Kaffee wieder aufzunehmen und bis zum Abend fortzuführen. In der Zeit, als wir das Haus mit meinen Möbeln füllen, beschäftigt er sich mit den Kommentaren zu einem Comicbuch mit kunsthistorischem und kabbalistischem Hintergrund. Jedes Mal, wenn wir mit einer neuen Ladung ankommen, ist er einen Schritt tiefer in die Entschlüsselung der Bilder des Comicmalers und des Textes eingedrungen. Dann geht er in sein Arbeitszimmer, holt die Bilder und seine Aufzeichnungen und breitet sie auf dem großen Tisch mit Blick in den Garten aus. Philip S. holt einen mitgebrachten Joint hervor, und wenn sie gemeinsam daran ziehen und tief inhalieren, tauchen sie in die Welt der Kabbala und der Tarot-Karten ein, deren Weisheit die Comicfigur Flabby Jack in dem Buch nicht versteht. Philip S. konnte damals nicht ahnen, dass zwei der Karten, in die sie sich im Marihuana-Dunst versenkten, eine geheime Botschaft für seine noch unbekannt vor ihm liegende Zukunft enthalten. »Konzentriere dich auf deine Begabung«, sagt das Bild des Weisen auf der einen Karte; »Lass dich nicht dazu bewegen, die Welt nicht zu sehen, wie sie ist«, sagt das Bild des Narren auf einer anderen. Als der Bildband schließlich veröffentlicht wird, ist Philip S. bereits dabei, seine Begabung für ein Leben im Untergrund hinzugeben, weil er die Welt nicht erträgt, wie sie ist.
    Eines der vielen Gespräche in dem Haus, das er mein Elternhaus nennt, hat er in einem Film ohne Worte festgehalten. Da sitzen meine Mutter und ihr Mann, den ich gerne zum Vater gehabt hätte, am Tisch im Wohnzimmer, das auf den Garten hinausgeht. Hinter ihnen zwei kleine Stillleben in Goldrahmen. Die Terrassentür steht offen. Vielleicht führen sie das Gespräch fort, aus dem heraus er nach der Kamera gegriffen hat, oder sie reden über meinen kleinen Sohn, den sie vom Tisch aus sehen können, während er eine rote Schubkarre über die Wiese schiebt. Dass Philip S. später, auf seinen geheimen Wegen mit falschen Papieren, versucht war, an der bekannten Ausfahrt kurz nach Darmstadt abzubiegen und den Sandweg mit den Löchern entlangzufahren bis zu dem alten Zaun, über dem von einer Pergola herab eine Glocke hängt, an der er nur zu ziehen braucht, in der Gewissheit, willkommen zu sein, erfahre ich Jahre später von einer einstigen Weggefährtin. Aber er hat es nicht getan.
    Im Garten dieses Hauses entstehen zwei Fotos von ihm, die ich erst lange Zeit nach seinem Tod wieder entdeckt habe. Sie zeigen ihn so, wie er in mein Leben gekommen war. Noch sind die Haare lang, um den Hals trägt er einen Seidenschal. Obwohl er die Augen gesenkt hat, füllt sein Gesicht den Rahmen des Bildes ganz aus. Aber ein weißer Streifen zieht sich über eines der beiden Bilder, als ob ihn jemand hätte ausstreichen wollen.

XIV
    Der Schöneberger Hausbesitzer sitzt im Parterre in einem engen, dunklen Büro mit Blick auf die Mülltonnen, vor sich eine Schnapsflasche. Philip S. trinkt mit ihm. Die Hand des Hausbesitzers zittert, als er seinen Namenszug unter den Mietvertrag setzt. Danach zieht er einen Kamelhaarmantel an und wankt durch den Hof. Ab und zu stößt er an einen Pflasterstein, fängt sich kurz vor dem Sturz, lässt das Eingangstor hinter sich ins Schloss fallen und verschwindet mit seinem Opel Kapitän Richtung Lankwitz in ein menschenleeres Haus. Wenn er morgens nüchtern in sein Büro kommt, glaubt er, nicht einen Mietvertrag, sondern einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben. Im Lauf des Tages stimmen ihn die vielen kleinen Gläschen aus der Flasche auf seinem Schreibtisch

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