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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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nichts zu sagen. Hart klappt der Verschluss der Handtasche in ihr Schweigen. Er nimmt ihre Unsicherheit in der fremden Umgebung wahr, aber er hilft ihr nicht. Sie fragt nicht nach dem Film, den er gedreht hat, nicht nach seinem Leben mit Frau und Kind und auch nicht nach den Gründen, die zu dem Rauswurf geführt haben. Ihr Interesse gilt einzig dem monatlichen Scheck, der künftig ausbleiben wird. Ein Jahr lang haben sie sich nicht gesehen. Sie bleibt eine Stunde. Dann kehrt sie nach Zürich zurück. Sie sehen sich nur noch einmal, bevor sie am neunten Mai 1975 ihre schwerste Reise nach Deutschland antritt. Später, als mein Sohn so alt ist wie ihr Sohn, als er starb, drängt es mich, ihr zu sagen, dass ich um ihren Schmerz weiß. Aber ich habe es nicht getan. Die Furcht, zurückgewiesen zu werden als die Frau, die in ihren Augen das Verderben über ihren Sohn gebracht hat, war zu groß.
    Im Winter 1969 wird Philip S. Taxifahrer. Wochenlang bereitet er sich auf die Prüfung vor. Ich frage ihn Strecken ab, die er auswendig lernen muss. Die kürzeste Verbindung von Wittenau nach Britz und von Wannsee nach Kreuzberg, alle größeren Querstraßen und sämtliche Straßen, die plötzlich aufhören, weil sie an die Mauer stoßen. Er kennt sich jetzt aus. Er fährt nachts. Die Nacht zieht ihn in ihren Bann. Er erlebt sie wie eine Gegenwelt. Neben ihm eine Thermoskanne und ein Butterbrot. Er meidet die Warteschlangen an den Rufsäulen. Er zieht das Fahren vor,wo immer es ihn hin verschlägt, und er nimmt seine Kunden lieber vom Straßenrand mit, als dass er am Bahnhof Zoo oder am Flughafen Tempelhof auf sie wartet. Er fährt einen Blinden ins Bordell am Stuttgarter Platz und sucht ihm eine Frau aus, er fährt eine weinende Frau von Bar zu Bar auf der Suche nach ihrem Verlobten, er rüttelt einen Mann im Schnee wach und fährt ihn zu einem Hochhaus im Hansaviertel, und er zerrt einen Betrunkenen aus dem Auto, der ihn Gammler nennt. Nach acht oder neun Stunden bringt er das Taxi in die Zentrale und kommt nach Hause. Er fährt, wann es ihm passt. Er kann es sich aussuchen. Was er verdient, reicht uns zum Leben. Wenn er nicht Taxi fährt, nimmt er Kontakt zu Gruppen in den Arbeitervierteln und Betrieben auf und beginnt sich langsam der Welt zu nähern, in die er irgendwann ganz und gar hinabtauchen wird. Es ist die Zeit, in der aus seiner Sprache die letzte Erinnerung an die Schweiz von einem leichten Berliner Akzent verdrängt wird. Es ist auch die Zeit, in der wir immer öfter sagen, man müsse dieses tun und jenes, und dass es jetzt reiche, dass es jetzt genug sei. Alle reden davon, dort, wo wir zusammenkommen, im Kinderladen, bei Versammlungen. Wir sagen es über den Vietnamkrieg, wir sagen es, wenn wieder ein Führer der Black Panther in den Vereinigten Staaten erschossen worden ist, wir sagen es, wenn zum wiederholten Mal ans Licht kommt, dass ein alter Nazi-Richter immer noch Recht spricht, wir sagen es, wenn in Griechenland auf streikende Arbeiter geschossen wird, wenn in den Betrieben die Stückzahl erhöht und den Kinderläden staatliche Zuschüsse verweigert werden. Wir sagen es ständig, und als sich schließlich die Frage: Reden oder Handeln stellt, handeln wir auch. Scheiben der griechischen Botschaft gehen zu Bruch, aus dem Auto einesfür irgendein Unrecht verantwortlichen Richters schlagen Flammen, auf den weißen Amischlitten eines unbekannten Besitzers sprüht Philip S. in roten Lettern das Wort »Arbeitermacht«, an der Wand eines Senatsgebäudes prangert er in großen Buchstaben den für die Polizei verantwortlichen Innensenator an, während ich im Auto mit laufendem Motor warte und wir in letzter Minute vor der gezogenen Waffe eines Polizisten entkommen, der aber nicht schießt, weil er mit seinen Stiefeln auf dem vereisten Pflaster ins Rutschen gerät. Ich bin blind für die Gefährlichkeit dieses Augenblicks, weil ich nur noch nach Hause will, zu meinem Kind. Im Nachhinein sieht es wieder aus wie eine Szene aus einem Film. Ich hatte noch nie in die Mündung einer Pistole geblickt, ich wollte nicht glauben, dass es Wirklichkeit war, was ich gesehen hatte.
    Ich weiß nicht, woher ich die Gewissheit nahm, dass ich nach solchen kurzen nächtlichen Ausflügen immer wieder unversehrt nach Hause kommen würde. Der Anblick meines schlafenden Kindes wurde zu einem Moment des größten Glücks. Vielleicht waren die Überwindung der Angst und die Aussicht auf die Heimkehr der eigentliche Antrieb für meine

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