Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
Vom Netzwerk:
Gratwanderungen, während Philip S. nicht an Zurückkehren, sondern an Weitermachen dachte. Wie ihn einst sein künstlerischer Anspruch herausforderte, so verlangt er sich jetzt eine politische Glaubwürdigkeit ab, die er im Schutz der Dunkelheit zu beweisen sucht.

XIII
    Im Winter des kommenden Jahres, als meine Freundin C. zum zweiten Mal, wie sie mir später anvertraut, stumm und unauffällig ihren Tod plant, hatte ich meine immer noch in den Anfängen steckende Doktorarbeit endgültig beiseitegelegt und in der Wohnung an den Bahngleisen eine Werkstatt eingerichtet. Philip S. hat Halterungen für Kleiderstangen schweißen lassen. An den Wänden hängt meine Sammlung der Mode aus den dreißiger und vierziger Jahre, die ich von der Porta Portese und dem Markt St. Giovanni in Laterano mitgebracht oder in den Berliner Trödelläden zusammengesucht habe. Es kommen Freundinnen aus den Kinderläden und einige der Frauen, die an der Filmakademie studieren. Manche suchen sich Kleider aus, die ich ihnen anpasse. Oder ich nähe etwas ganz Neues für sie.
    An dem Tag, den C. dazu bestimmt hatte, dass er ihr letzter sein würde, kommt sie in meine Werkstatt und näht sich eine Hose aus grünem Samt. Vor dem Spiegel probiert sie die Hose an, die eng an ihrem schlanken Körper liegt. Wir verbringen die Stunden des Nähens mit Gesprächen, wie wir sie immer geführt haben. Über Abnäher, Beinlänge, über Hosenbund und Schlag, über Männer und Kinder, über eine geplante radikale Frauenzeitschrift, die wir im Kopf haben, über ein Leben in Kommunen und über all das, was in der Welt im Argen liegt, und darüber, wie wir es ändern könnten.
    Dass ihre Vorstellungen davon, wie die Welt zu ändern wäre, längst die meinen gesprengt haben, verbirgt sie. Ihre Schritte waren immer ein wenig größer als meine. Auch wenn ich sie gerade noch neben mir gespürt hatte, war sie bereits unterwegs zu etwas Neuem. Eine Liebesgeschichte hatte sie bis nach Jordanien in ein Lager der palästinensischen Befreiungsfront geführt. Die Liebesgeschichte ist vorüber, als sie nach einigen Wochen zurückkehrt, aber das Leben in dem Lager bleibt haften, die Bilder von Gewalt und Hoffnungslosigkeit, ein Zorn, den sie stellvertretend für die palästinensischen Kämpfer aus der Fremde mitbringt.
    Als die Hose fertig ist, schlüpft sie hinein, umarmt mich und geht nach Hause. In der Nacht schluckt sie dreißig Schlaftabletten. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass sie gekommen war, um sich für immer zu verabschieden. Vielleicht ist ihre Umarmung inniger als sonst gewesen, denke ich später, als die Trauer diesem Augenblick ein anderes Gewicht gibt. Sie will alles hinter sich lassen, ihre kleine Tochter und auch, wie mir allmählich bewusst wird, die Trümmer eines gefährlichen Traums. Ich ahne, dass meine Freundin noch eine andere, verhängnisvolle Existenz führt und möglicherweise an einem versuchten Anschlag beteiligt gewesen ist, dessen Folgen sie niemals hätte verkraften noch rechtfertigen können. Ihr Leben spielt sich auf brüchigem Boden ab. Das Undurchschaubare, doch Kampfbereite und Siegesgewisse, das sie nach ihrer Rückkehr aus Jordanien umgab, erscheint mir rückblickend wie der Vorbote einer in ihrem Inneren ablaufenden, unaufhaltbaren Tragödie. Sie handelt von Anspruch und Schuld und von einem Menschen, der, zerrieben zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, den Boden unter den Füßen verliert. Nocheinmal überlebt sie und kommt im Frühling im Gartenhäuschen meiner Mutter wieder zu Kräften.
    Im Verlauf des Sommers werden Philip S. und ich der vielen schönen alten Dinge überdrüssig, mit denen wir uns ausgestattet haben. Unser Leben hat eine Geschwindigkeit erreicht, die keine Zeit lässt, den Staub auf Glaslampen, Biedermeierkommoden und polierten Tischen wegzuwischen. Wir sind jetzt oft in Kommunen unterwegs; eine Matratze, ein Tisch, eine gute Zeichenlampe, ein paar Stühle, eine Kleiderstange und vielleicht noch ein großer Spiegel reichen uns als Einrichtung. Ein Auto, in das nur eine Kleinfamilie passt, finden wir nicht mehr zeitgemäß, und Philip S. lässt seinen kleinen roten Citroën in Flammen aufgehen und kauft von dem Geld der Versicherung einen Bus. Wir beladen ihn mit der Vitrine, dem kostbaren Geschirr, dem ovalen Tisch mit den Sesseln, dem Biedermeiersofa, dem goldenen Spiegel und den Empire-Stühlen. Südlich von Frankfurt lebt meine Mutter mit ihrem zweiten Mann, einem Kunsthistoriker, im eigenen Haus, und wir

Weitere Kostenlose Bücher