Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
begegne einem Menschen, den ich nicht anreden kann. Nicht mit dem vertrauten Namen, nicht mit dem neuen, der einem anderen gehört, einem in seinem Alter, von seiner Größe, der den Kopf hinhält für Philip S., der mit dem Pass des anderen wegtaucht, über Grenzen geht, sich eine Steuerkarte besorgt, sich in einer Wohnung anmeldet und was sonst noch alles später in den Zeitungen steht.
Erst als wir zusammen durch die Straßen laufen, können wir uns etwas erzählen von dem, was wir tun. Aber es ist nur der Rahmen unseres gegenwärtigen Lebens, für den wir Worte finden. Er erfährt, dass ich in einer Schule unterrichte. Ich erfahre, dass er in einem Kölner Arbeiterviertel in einer kleinen Wohnung lebt und in einer Fabrik arbeitet. Ich spreche von dem, was mich die Kinder lehren, davon, dass sie mich lehren, mit Veränderungen in der kleinen inneren Ordnung meiner selbst zu beginnen. Er spricht von dem alltäglichen Widerstand in den Fabriken und Arbeitervierteln, dass er dort ansetzen will mit zielgerichteten Aktionen, die nur aus dem Untergrund zu leisten sind. Während ich mich daran halte, dass es oft der nicht kontrollierbare Zufall ist, der das Bewusstsein verändert, nicht das absichtsvolle Handeln, vertraut er auf die richtige Analyse, die im richtigen Augenblick die richtige Aktion hervorbringt. Wir tasten uns ab, aber wir berühren uns nicht. Wir gehen nebeneinander, manchmal streifen wir uns aus Versehen. Wir gehen, ohne es zu bemerken, immer die gleiche Runde durch die engen Straßen des Frankfurter Nordend, den Blick allzu aufmerksam auf jeden gerichtet, der uns entgegenkommt. Die ständig anwesende Gefahr verschlägt mir die Sprache. Es will mir nicht gelingen, das zu sagen, was ich sagen möchte, oder das zu fragen, was ich ihn nicht gefragt habe, damals, als es noch möglich war. Das »Warum« kommt nicht über meine Lippen, ein »Warum«, das nur uns beide angeht, jenseits des heroischen Auftrags, der sich wie eine Wand zwischen uns aufgerichtet hat. Angesichts der Konsequenz seiner einstmals getroffenen Entscheidung, zum Preis der Selbstzerstörung auch das zu leben, was er sich vorstellt, gefriert mein »Warum«. Auch heute finde ich keine Antwort. Alle Erklärungsversuche werfen ein Netz über ihn, das ihn gefangenhält und gegen das er sich nicht mehr wehren kann.
Auf unseren Wegen durch das Frankfurter Nordend gibt es keine Rückkehr mehr an den inneren Ort, den einzigen, der nur uns gehört, ihm und mir und einem kleinen Kind. Wir können nicht mehr eintauchen in die Erinnerung an das, was einmal unser gemeinsames Leben war. Die Erinnerung ist Sperrgebiet, weil er jetzt ein anderer ist, einer, der von nichts weiß, für den es die Wohnung an den Bahngleisen nicht geben darf und nicht den Tag, als er bei mir blieb, um, wie er mich damals spüren ließ, nie mehrwegzugehen. Es darf den Einsamen Wanderer nicht geben, nicht den Augenblick am Ende, als mein Kind durch das Bild läuft und leise nach ihm ruft mit einem Namen, von dem nur wir wissen. Er darf sich nicht an Rom erinnern, nicht an unsere erste Reise ans Meer, wo ich alle Kleider, die er liebte, für ihn anzog und er mich auf schmalen Filmen so festhielt, wie er mich sehen wollte. Wir können nicht zurück in das Leben in den beiden Etagen in Schöneberg und nicht zu unserem Abschied an der Bushaltestelle, auch nicht für einen Augenblick, weil alles, was einmal war, jetzt Gefahr ist, nichts als Gefahr.
Außer der Bedrängnis, die uns umschließt, während wir ziellos nebeneinander durchs Nordend laufen, gibt es keine Nähe mehr. Er will noch einmal meinen Sohn sehen und geht auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, so wie er es früher getan hat. Ich weiß nicht, was er von dem schlafenden Gesicht mitnimmt, dessen Anblick er eingetauscht hat für einen selbstverordneten, tödlichen Verzicht.
XXVII
Ende Februar wird ein Politiker entführt. Die Entführer holen im Tausch gegen den Politiker frühere Weggefährten aus dem Gefängnis, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden. Die Polizei hat Philip S. auf die Liste der Entführer gesetzt.
Ende April stehen sie vor der Tür, zum ersten Mal seit ich Berlin verlassen habe. Ich bin gerade dabei, frisch gewaschene Vorhänge an den Fenstern aufzuhängen, und erkenne sie schon am fordernden Klingeln. Langsam steige ich von der Leiter und sehe sie durch die Scheiben der Eingangstür, sie sind zu dritt. Zu dritt sehen sie mich näher kommen, undeutlich hinter dem geriffelten Glas. Sie haben
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