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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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sich nebeneinander aufgestellt, jeder in seiner eigenen Rolle, die sie vielleicht noch leise absprechen in den Sekunden, bevor ich öffne, ein Spiel mit Drohungen, Versprechungen und Angeboten. Sie wollen wissen, wo er jetzt ist. Sie fragen, ob er noch Schweizerdeutsch spricht, ob er lieber Wein oder Bier trinkt, welche Zigarettenmarke er raucht. Ich sage nicht, dass er gar nicht raucht, dass er noch nie geraucht hat. Ich schweige, sage kein Wort, auch keines, um das Schweigen nach ihren Fragen mit Geräusch zu füllen. Ich sage auch nicht, dass ich nichts weiß. Sie behaupten zu wissen, dass er hier gewesen ist. Ich würde mich strafbar machen, wenn ich ihn verstecke. Dann fragen sie mich noch, ob er bei einer Verhaftung schießen würde. Ich bleibe stumm und schließe die Glastür.
    In der Zeit, die zwischen seinem Besuch und dem Ende noch bleibt, suche ich nach einem kleinen Haus auf dem Land und finde eine verlassene Stellmacherei in der Rhön, unweit der Burg, in der ich aufgewachsen bin. Dort, so male ich es mir aus, werden wir miteinander sprechen können, dort in dieser kargen, menschenleeren Landschaft kann ich ihm die eine Frage stellen: Warum? Als ich aber endlich den Kaufvertrag in einer Bank unterzeichne, ist sein Gesicht auf der Fahndungsliste im Schalterraum bereits durchgestrichen.
    Am Freitag, dem neunten Mai, bin ich allein in der Wohnung. Meine Freundin ist in der Universität. Die anderen sind verreist, einer ist mit dem Moped nach Sardinien gefahren, und der Mann, den ich jetzt liebe, besucht seine Eltern in England. Beide werden sie zurückkommen, als sie von dem, was in der Nacht geschehen ist, in der Zeitung lesen. Der eine wird tagelang auf dem Moped sitzen, der andere die nächste Fähre nehmen. Seit dem Morgen bin ich unruhig von Zimmer zu Zimmer gegangen. Später, als mein Sohn nach der Schule auf dem breiten Trottoir der Eschersheimer Landstraße sein neues Rollbrett ausprobiert, gehe ich immer wieder ans Fenster und schaue ihm nach. Er fährt waghalsig die abschüssige Straße hinunter. Er fällt, steht auf, kommt mit kräftigen Stößen auf dem ansteigenden Trottoir zurück, dreht auf der Höhe unseres Hauses um, stürzt sich wieder die Straße bergab bis zur nächsten Querstraße, geht ein wenig in die Knie, versucht seinem weichen, verletzbaren Körper Eleganz abzufordern und so zu stoppen, dass er sich dabei bereits in die Gegenrichtung dreht. Ich stehe am Fenster und beobachte mit wachsender Unruhe die kindliche Unschuld seiner beharrlichen Versuche, die Welt dort unten auf dem Asphalt herauszufordern.
    Als meine Freundin am Nachmittag mit der Nachricht von einer nächtlichen Schießerei in Köln nach Hause kommt, bei der es einen Toten gegeben hat, weiß ich sofort, wer der Tote ist. Ich habe das Unheil den ganzen Tag gespürt und versucht, es von meinem Sohn fernzuhalten, indem ich aus dem Fenster sah und ihm mit den Augen folgte. Er fährt immer noch bergauf und bergab, als bei den ersten Nachrichten um siebzehn Uhr das Gesicht von Philip S. den ganzen Bildschirm füllt.
    Am frühen Abend bringe ich ihn zu den Großeltern ins hessische Ried. Ich habe ihm noch nichts gesagt, ich brauche Zeit. Ich denke, die Polizei wird kommen, heute oder morgen, und ich will nicht, dass er es auf diese Weise erfährt. Aber er spürt, dass etwas anders ist als sonst, wenn ich ihn zu den Großeltern bringe, dass etwas passiert ist, etwas Endgültiges. Als wir wie immer das letzte Stück Wegs über die Abkürzung am Rand eines Kiefernwalds entlangfahren und er auf den Dachgepäckträger klettert und dann unter der Trauerweide vor dem Haus vom Auto in meine Arme rutscht, kommt es ihm vor, so sagt er, als würde ich ihn ins Internat bringen, als würden wir uns jetzt lange nicht sehen, so viel Abschied spürt er in meiner Umarmung bis übermorgen.
    Am Sonntag läuft er hinter einem Ball her, als ich über die Wiese zurückkehre, um ihn abzuholen. Dann ändert er die Richtung und kommt auf mich zu. Ich sage es ihm mit wenigen Worten. Er dreht sich wortlos um, rennt wieder in Richtung des Balls und schießt ihn mit einem harten Tritt über die Wiese hinaus. Diesmal findet er kein Bild,wie nach dem Tod von H., das ihn von der Beklemmung in seinem Herzen erlöst. Die Nachricht, die er gehört hat, versenkt er tief unter das, was das Leben eines zehnjährigen Jungen ausfüllt. Siebzehn Jahre später nimmt sie noch einmal Besitz von ihm, als er sich an der Berliner Filmakademie bewirbt, um Kameramann zu

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