Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
gekommen. Seine Mutter gehörte als persische Jüdin zu den Verfolgten. Angezogen von seiner Fremdheit, lernte ich ein Semester lang seine Sprache, schrieb meinen Namen in seiner Schrift, von rechts nach links, suchte im Pergamonmuseum bei den orientalischen Köpfen die Linie seines Mundes und erlebte eine erste wilde Liebe in Hotels und in Nachtdienstzimmern der verschiedenen Krankenhäuser, in denen er zum Chirurg ausgebildet wurde. Wenn ich ihm auf dem Korridor nachschaute und er das eine Bein unmerklich nachzog, während sich der im Rücken zugeknöpfte weiße Kittel ein wenig öffnete, sah ich seine Verletzlichkeit. Aber wenn wir bei befreundeten Arztehepaaren in weißen Vorstadtvillen zum Essen eingeladen waren, sah ich eine Existenz als Arztfrau in einem Neubau am Stadtrand vor mir und wusste, dass ich so nicht würde leben können. Als ich mehr als ein Jahrzehnt später seinen Namen als Notanker weitergab, dachte ich daran, wie er einmal einem gerade geborenen Kind das Leben gerettet hat. Er hatte das kleine Wesen so lange mit seinem Mund beatmet, bis es schließlich alleine dazu in der Lage war. DieSchutzschicht auf der Haut des Kindes aber, dieses Fett, hatte er mir damals erzählt, habe er noch lange auf seinen Lippen gespürt.
Der persische Arzt ist mit dem Tod vertraut, auch mit dem gewaltsamen. Als er zu einem angeschossenen »Terroristen« gerufen wird, hat er einen Menschen mit mehreren Schusswunden erwartet. Aber er findet einen Körper vor, der von Kugeln durchsiebt gewesen sei, erinnert er sich, als wir uns Jahre danach wiedersehen und durch Zufall auf die Geschehnisse jener Nacht zu sprechen kommen. Er zählt mehr Schüsse, als die Polizei behauptet je abgegeben zu haben, mehr als doppelt so viele, wie auf der Körperskizze eingezeichnet sind. Er kommt auf achtundzwanzig Wunden im Körper von Philip S. Damals will ich mir nicht vorstellen, dass Bisswunden der Polizeihunde darunter gewesen sein könnten, und heute, so viele Jahre später, kann er sich nicht mehr erinnern. Er weiß nicht, dass die Zahl achtundzwanzig noch einmal das Ende des Menschen festschreibt, der vor ihm liegt. Von den Schüssen, sagt er, seien sieben tödlich gewesen. Er sei daran verblutet. Kugeln, sagt er, treffen auf den Körper wie Schläge, sie werfen ihn hin und her und reißen an ihm. Trotz der vielen Wunden in seinem Leib aber habe der Tote beinahe unzerstört auf ihn gewirkt. Und er erinnert sich an die kleinen weißen Aufkleber an den Sohlen seiner Schuhe. Sie müssen ganz neu gewesen sein, sagt er.
XXVIII
Fünfundzwanzig Jahre habe ich gebraucht, um hierher zu kommen. Es ist ein warmer Tag im Mai, nicht der neunte, aber wenige Tage danach. Über die Jahre hatte ich mir ein eigenes Bild von diesem Ort gemacht. Von dem Wort »Parkplatz« war nur der »Park« in mein Gedächtnis eingedrungen. Der Stacheldraht, auf allen Fotos deutlich zu sehen, hatte sich in meiner Vorstellung in eine Eisenbande verwandelt, wie sie in Grünanlagen die Wiesen vom Weg abtrennt. Während all der Jahre hatte ich den Ort in Gedanken verschönert und ihn auf das Bild von Philip S. zugeschnitten, das ich in meiner Erinnerung bewahrte.
Aber der Platz, an dem er starb, ist auch im Jahr 2000 nichts als ein verwahrloster Parkplatz in einem Wohngebiet zwischen zwei Schnellstraßen. Auf der einen Seite wird er von einem längst aufgegebenen Supermarkt begrenzt. Davor verrostete Einkaufswagen, die immer noch an Ketten aneinanderhängen. Auf der anderen Seite ein heruntergekommener Häuserblock mit drei Stockwerken. An der Türklingel noch immer der Name des Mannes, der damals am Fenster gestanden und die Polizei gerufen hatte. Während ich auf einer niedrigen Mauer in der Sonne sitze, putzt ein junger Mann sein Motorrad an der Stelle, wo Philip S. vor fünfundzwanzig Jahren mit dem Fuß auf dem Pflaster zu seiner letzten Fluchtbewegung ansetzte und sich im Stacheldraht verfing.
Im Januar 1977 beginnt der Prozess gegen den schwerverletzten Fahrer des Wagens und den dritten Insassen, der bei der Ausweiskontrolle in dem zweitürigen Auto auf der Rückbank saß. Als die Polizisten ihre Waffen zogen, hatte er die Hände gehoben und die Schießerei hinter den Vordersitz geduckt unverletzt überlebt. Er und der Fahrer werden des Mordes und des versuchten Mordes an Polizeibeamten angeklagt, weil sie eine Waffe bei sich trugen, auch wenn kein Schuss daraus abgegeben wurde. Sie sollen als Gesinnungstäter abgeurteilt werden. Weil Philip S. geschossen
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