Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
einer Körperskizze des Toten eingetragen. Die Verlängerung der Schussbahn zur Hand des Schützen hin zeigt, so stellt der Sachverständige während des Prozesses vor Gericht fest, dass der Polizist H. aus größter Nähe auf einen am Boden liegenden Menschen geschossen hat.
Irgendwann muss es für Bruchteile von Sekunden still geworden sein. Dann werden die Polizeihunde freigelassen. Sie beißen sich in der Schulter des verwundeten Fahrersfest. Ein Toter, ein Sterbender und zwei Schwerverletzte liegen auf dem Parkplatz. Die beiden Schwerverletzten, der Fahrer des Autos und der Polizist G., Vater von zwei kleinen Kindern, liegen nah beieinander auf dem Pflaster. Sie liegen auf der Seite, die Arme an den Leib gepresst, um den letzten Rest Leben in sich festzuhalten. Sie alle werden fotografiert, bevor Hilfe kommt: Vor den Krankenwagen sind die Fotografen da.
Die Toten heißt ein Buch von Hans-Peter Feldmann, das im Jahr 1998 erscheint. Eindrücklich reihen sich Bilder der Menschen aneinander, deren Leben während der Revolte meiner Generation ein gewaltsames Ende fand. Unter den rund hundert Bildern findet sich nur der Name, geordnet nach Todesdaten, beginnend mit dem zweiten Juni 1967. Ein Bild nach dem anderen. Opfer, Täter, Polizisten, Unbeteiligte. Manche werden im Tod gezeigt, mit offenen erloschenen Augen oder in einer Blutlache oder auf dem Totenbett. Manche sieht man im Leben, lachend, am Telefon, in Uniform oder eine Zigarette rauchend. Philip S. nimmt in der Reihe der Toten den siebenundzwanzigsten Platz ein, gefolgt von dem Polizisten, den er erschossen hat, auf der nächsten Seite. Weil er aber auf dem Foto in dem Buch noch nicht tot ist und es im Sterben wie bei der Geburt um die genaue Reihenfolge geht, müssten Philip S. und der bereits von der Kreidelinie des Todes umschlossene Polizist P. mit den Schatten unter den Augen ihre Plätze tauschen.
Philip S. ist noch in Bewegung, auch wenn es seine letzte ist, als die Fotografen ihre Objektive auf ihn richten. Er, der sich im Leben nicht zeigte, wird im Sterben millionenfach gezeigt. Ihm bleiben nur noch Augenblicke, bis er endgültig das Bewusstsein verliert, aber noch lebt er.Noch ist er auf der Flucht. Noch will er irgendwohin. Er müsste nur wieder aufstehen können, seinen Fuß aus dem Stacheldraht lösen und weiterrennen. Aber es ist zu spät. Der Polizist H. mit der Maschinenpistole hat ihn eingeholt. »Als das Erschießen losging«, wird sich der Polizist H. später vor Gericht versprechen und die Worte eilig wieder zurücknehmen.
Philip S. wird aus dem Gestrüpp gehoben und auf eine Trage gelegt. Er liegt wie einer, der schläft, nicht wie ein Toter. Die Verletzungen sind seinem Körper nicht anzusehen. Er liegt, wie er immer gelegen hat, den einen Arm unter dem Kopf. Die langen Finger seiner rechten Hand beugen sich entspannt über den Rand der Trage. Sie sind leicht geöffnet, als ob er sich festhalten wollte. Der schwarze Pullover und die Lederjacke sind jetzt ganz nach oben geschoben. Ein helles Hemd wird sichtbar. Der Gürtel umschließt seine Hüften wie einen letzten Halt. In den nächsten Minuten oder Sekunden wird er der achtundzwanzigste Tote sein. Die Zahl schreibt sein Ende fest, sein Alter und seinen Platz in der Reihe der Verlorenen. Sein Leben endet auf dem kurzen Weg vom Parkplatz zum Krankenhaus in einem Kölner Arbeiterviertel, hinter der Schnellstraße.
Als der diensthabende Arzt zu einem angeschossenen Terroristen in die Notaufnahme gerufen wird, kann er nur noch den Tod feststellen. Er weiß nicht, wen er vor sich hat. Er kann es nicht wissen, dass der Mensch, der auf der Bahre vor ihm liegt, schon lange ein kleines Stück Papier mit seinem Namen und der Adresse dieses Krankenhauses bei sich hat. Als ich den Zettel zwei Jahre zuvor im Café in der Uhlandstraße an ihn weitergab, ahnte ich nicht, wohines Philip S. verschlagen würde. Aber ich gab ihm den Namen und die Adresse wie eine letzte Anlaufstelle in der Not. Dass Philip S. in den ersten Stunden des neunten Mai 1975 doch noch auf ihn getroffen ist, gehört zu den Fügungen des Schicksals, die sich unserem Einfluss entziehen.
Ich war neunzehn, als mir jener Arzt im Foyer eines Kinos in München in den Mantel half. Ich drehte mich um und sah einen Mann mit dichten schwarzen Locken in einem Trenchcoat mit hochgeklapptem Kragen, eine Zigarette zwischen strahlend weißen Zähnen. Sein Vater war während der russischen Revolution aus Aserbaidschan nach Persien
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