Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Einer verlässt den Saal schon beim Vorspann auf Büttenpapier. Die meisten sind ratlos. Philip S. wird nie erfahren, dass Zuschauer darunter waren, die manche Szenen bis heute im Gedächtnis behalten haben – Brahms, gesungen gegen die Krähen und das Rauschen der Bäume, der endlose Weg des Wanderers auf der Blankenfelder Chaussee, der Fährmann mit dem Kahn im Gegenlicht an der Havel, eine Einstellung, die an Carl Theodor Dreyer erinnert, dem der Film gewidmet ist. Ausführlich erläutert er den experimentellen Charakter seines Films, Szene um Szene, Einstellung um Einstellung. Draußen jedoch ist Vietnam, die Amerikaner bombardieren Hanoi. Auf der Frankfurter Zeil haben Studenten ein Kaufhaus angezündet – als Antwort. Die, die das Kino nicht verlassen haben, fragen ihn, was denn seine Antwort sei. Aber er hat keine.
VI
Er schläft sich aus, heizt den Badeofen an, wechselt die Kleider und fährt wieder in die Akademie. Es ist der neunte April, kurz vor Ostern. Er hat es nicht als Niederlage empfunden, wie sein Film von den meisten Studenten aufgenommen wurde. Auch wenn sie ihn abgelehnt und als Zumutung empfunden hatten, war ihre Ablehnung nicht ohne Anerkennung gewesen.
Noch sind es interne Angelegenheiten, ein- oder abgesetzte Studentenvertreter, die verschiedene Gruppen in der Akademie gegeneinander aufbringen. Den Studenten geht es um das, was sie mit Filmen erreichen können, erreichen wollen. Sie schreiben Flugblätter − Filmemacher mit politischem Anspruch gegen unpolitische Ästheten und umgekehrt. Philip S. gehört zu der Gruppe der Formalisten und Leinwandpoeten. Auf einem Flugblatt fordern sie, die Akademie vor allem in ein Zentrum experimenteller filmischer Arbeit zu verwandeln, während die anderen, die Politischen, das Kameraauge dokumentarisch auf das richten wollen, was in der Gesellschaft nicht stimmt. Die Welt von Philip S. aber ist eine gestaltete. Er hat gezeigt, wohin er mit seinem Film gehört. Er hat Menschen dargestellt, deren Vereinzelung, Einsamkeit und Verstrickung in undurchschaubare und bedrohliche Mächte metaphysischer Art ist und durch keine Revolution aufgehoben werden kann.
Zwei Tage später, am elften April, trifft ein Mann im Interzonenzug am Bahnhof Zoo ein. Er kommt mit dem Plan, einen bekannten Studentenführer zu töten. Er trägt zwei Pistolen bei sich, eine unter der Jacke, eine zweite in einer Tasche. In der Tasche befindet sich auch die Bildzeitung, die seit langem eine Hetzjagd gegen den Studentenführer betreibt. Der Mann schießt, als der Studentenführer mit dem Fahrrad von der Johann-Georg-Straße auf den Kurfürstendamm einbiegt. Der Getroffene stürzt vom Fahrrad, reißt sich die Schuhe von den Füßen und die Uhr vom Handgelenk. Er ruft nach seiner Mutter, nach seinem Vater. Als noch niemand weiß, dass er überleben wird, spricht der schweizerische Tonmann aus, was die Unerbittlichen denken: dass ein Opfer die Revolution vorantreibt. Das Bild vom umgestürzten Fahrrad und dem Schuh, der auf dem Kurfürstendamm liegenbleibt, hält den Augenblick fest, als die Zeit stillstand. Danach geht sie anders weiter, eine Wende setzt ein, im Denken, in den Gefühlen und auch in den Taten, die folgen werden, früher oder später.
Noch in der Nacht zum Karfreitag beginnen in Berlin und in anderen Städten die Demonstrationen gegen den Verleger der Bildzeitung, der als eigentlicher Attentäter gilt. Als die Lastwagen die Druckerei verlassen, geraten sie in einen Steinhagel. Die Zeitungen können nicht ausgeliefert werden. Scheiben zerbrechen. Molotow-Cocktails fliegen. Menschen werden verletzt. Was am Springer-Hochhaus geschieht, erreicht uns verzögert. Philip S. und ich gehören zu keiner Gruppe, wir haben kein Telefon, und Besuch muss sich abends von der Straße aus mit Rufen bemerkbar machen, weil die Haustür ab acht Uhr mit einem Durchsteckschlüssel verschlossen wird.
Die Filmakademie ist der Ort, von dem aus die inoffiziellen Informationen zu uns dringen. Entsetzt über dieSchüsse wie über die gnadenlosen Worte des Tonmanns, halten wir Abstand. Doch der Hauswart, ein Polizist aus der Wohnung gegenüber, hat uns im Blick. Er zählt uns zu den Steinewerfern. Wir gehören nach »drüben«, nach Ostberlin zu den Kommunisten. Obendrein sind es nur wenige Schritte von uns zu den finsteren Gestalten der berüchtigten Kommune am Stuttgarter Platz, die den ganzen Tag auf Matratzen liegen, Haschisch rauchen, sich nackt fotografieren lassen und Flugblätter auf die
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