Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Straße werfen. Und schon vermeint der Hauswart und Polizist die Rufe Einlass begehrender Langhaariger unter dem Fenster zu hören, während er den Dreck von der Treppe vor unserer Tür zu einem Häuflein zusammenkehrt.
Einige der als Formalisten und Leinwandpoeten Gebrandmarkten ziehen sich zurück, verlassen die Stadt und drehen Filme, die bald im Kino zu sehen sind. Philip S. verschließt die große runde Blechdose, in der sein Film liegt, mit Lassoband. Der Einsame Wanderer gehört ihm nicht. Er ist Eigentum der Akademie und bleibt im Schneideraum liegen.
Er geht jetzt zu den politischen Versammlungen in der Akademie, wo es für ihn etwas zu erfahren gilt, das ihn bislang in seiner ästhetischen Sicht auf die Welt nur am Rande berührt hat. Seinem reichen Elternhaus hatte er den Rücken gekehrt, weil er es als kalt und puritanisch empfand und dort zu oft von Geld die Rede war. Ihm ging es um künstlerische Freiheit, und wenn er sich die Sinnfrage stellte, lag die Antwort in der strengen Leidenschaft seines gestaltenden Auges. Zwei Monate vor den verhängnisvollen Schüssen, als der Verleger der Bildzeitung auf einem Tribunal wegen Aufforderung zur Lynchjustiz angeklagt wurde, war Philip S. mit dem Kameramann auf der Blankenfelder Chaussee unterwegs, um die Zeit zu stoppen, die der Wanderer bis zum Horizont brauchen würde. Als der Studentenführer kurz darauf während eines Kongresses gegen den Krieg in Vietnam ahnungsvoll davon sprach, dass nicht mehr viel Zeit bleibe und auch wir in Vietnam täglich zerschlagen würden, war Philip S. bereits tief in die Dreharbeiten des Einsamen Wanderers eingetaucht. Jetzt aber, nach dem elften April, stürzt er sich in die Diskussionen, begierig nach Information und Auseinandersetzung.
Eine Versammlung folgt der anderen, dokumentiert auf den Fotos, die bald die Wände sämtlicher Gänge bedecken. Tagelang, wochenlang fährt er zur Akademie. Aber als ich nach seinem Tod auf diesen Bildern nach ihm suche, kann ich ihn nicht finden, und wieder will mir scheinen, als ob es ihn nie gegeben hätte. Erst viele Jahre später entdecke ich mit der Lupe sein Gesicht, auf einem einzigen Bild in einem Buch. Ein Schatten liegt darüber und lässt sein Haar und seine Haut südländisch dunkel erscheinen. Er steht ganz hinten in einer Versammlung, als ob er gerade erst dazugekommen wäre oder gleich wieder gehen würde.
Im Mai 1968 werden Gesetze erlassen, die an die Grundrechte rühren, Gesetze für den Notstand oder den Ausstand, Gesetze, die es erlauben, Briefe zu öffnen, Telefongespräche abzuhören und Rechte außer Kraft zu setzen, die im Grundgesetz niedergelegt sind. Aus Protest wird an allen Berliner Hochschulen gestreikt. Die Studenten besetzen die Filmakademie und geben ihr den Namen des russischen Dokumentarfilmers Dziga Vertov. Sie verbinden die allgemeine Empörung mit einem internen Aufstand gegen die Beschneidung ihrer Freiheit als Filmemacher.
Konflikte mit den beiden Direktoren sind nicht neu.Schon lange geht es um Reglementierungen in der Ausbildung. Die Studenten wollen mehr Rechte, sie wollen mitbestimmen. Die Direktion aber will Nachwuchs für die Fernsehanstalten heranbilden. Das verweigern beide Fraktionen, die ästhetische und die politische. Die Konflikte spitzen sich zu. Die Büros der beiden Direktoren werden verwüstet. Akten fliegen durch den Raum. Die Direktoren kündigen an, die Akademie von der Polizei räumen zu lassen. Den Besetzern wird Hausverbot erteilt. Alles liegt brach. Dreharbeiten können nicht weitergeführt werden. Fertige Filme dürfen nicht mehr öffentlich gezeigt werden, nicht auf den kommenden Berliner Filmfestspielen und nicht auf irgendeinem anderen Festival. Wer gegen das Hausverbot verstößt, soll von der Akademie verwiesen werden. Dies hätte das Ende einer hart errungenen Ausbildung bedeutet.
Philip S. ist der einzige, der die Versammlung kurz verlässt und zu mir nach Hause fährt. Er will nicht mehr für sich allein entscheiden. Er weiß, was es bedeutet, wenn er die Akademie verlassen muss. Aber wir beide wissen auch, dass es einer Unterwerfung gleichkommt, aus Angst vor den Folgen auf halbem Wege umzukehren. Als er in die Versammlung zurückkehrt, hat die Polizei begonnen, die Akademie zu räumen. Er schnappt sich die Filmdose mit dem Einsamen Wanderer . Trotz seiner schweren Schuhe ist er schneller als ein Polizist, der ihn festnehmen will; mit der Dose unter dem Arm rennt er durch einen Hinterausgang ins
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