Das verschwundene Kind
nahm sie es von anderen und gab es weiter. Manchmal war ihre Wohnung wie ein Gefängnis aus schlechten Erinnerungen, dem sie Hals über Kopf entkommen musste. Dann brauchte sie einen Ort, an dem es für sie keine Erinnerungen gab, wo sie frei sein konnte. Atmen. Jemand anders sein.
Mildes Nachmittagslicht drang durch das Gaubenfenster. Von ihrer Couch aus konnte sie einige Zweige der haushohen Platanen sehen, die sich wie mahnende Finger in das klare Blau des Herbsthimmels reckten. An den handförmigen, großen Blättern kräuselten sich braun und spröde die Blattränder. Die Blätter bebten im Wind, als wollten sie sich dem unausweichlichen Fall mit letzter Kraft widersetzen.
Sie blickte sich im Zimmer um. Es war vollgestellt mit Dingen. Der Boden war vollständig bedeckt. Neue Flaschen waren hinzugekommen. Die mussten weg. Sie waren das Einzige, was sie wirklich aus dem Haus tragen und wovon sie sich trennen konnte. Diese Spuren ihres Lebens beseitigte sie von Zeit zu Zeit sorgfältig. Alle anderen mussten bleiben, weil sie sich nie sicher war, ob bei etwas, von dem sie sich trennte, nicht doch ein entscheidender Teil von ihr mitging, den sie später einmal brauchen würde, um sich zu finden. Sie kannte sich nur so, als ewig Suchende. Sucht kommt von Suchen, das wusste sie. Unruhe trieb sie durch den Tag wie der Wind die Herbstblätter. Willenlos, ziellos. Komm, hatte Hatice gesagt und sie bei der Hand genommen. Grelle Kreise drehten sich jetzt vor ihren Augen. Sie wollte aufstehen, um sich Wasser zu holen. Sie schreckte zusammen. Im Zimmer nebenan hatte sich etwas geregt. Was war das? Es jammerte wie eine rollige Katze.
*
Lars Stephan war mit dem Dienstwagen weggefahren, ohne Heck Bescheid zu sagen, wohin. Der hatte nur kurz über den Rand seiner Lesebrille geschaut, aber nicht nachgefragt, als Stephan das Büro verließ. In der Tür wäre dieser beinahe mit Ernestine zusammengeprallt. Auch sie hatte ihn nicht gefragt. Wahrscheinlich waren die beiden froh, ihn in dem winzigen Büro los zu sein. Wahrscheinlich störte er sie bei den Ermittlungen. Und wobei noch? Es gab Gerüchte. Im Präsidium nannte man sie »das Duo« oder in Anlehnung an die Sesamstraße »Ernie und Gerd«. Ein eingeschworenes Team. Nur beruflich? Das ging ihn nichts an. Doch wenn er sich nicht ranhielt, würden sie den Fall ohne ihn lösen. Er musste gegen die Geheimnistuerei der beiden eine Gegenverschwörung aufbauen. Er allein, denn auf Mitarbeiter konnte er noch nicht hoffen. Stephan lenkte den Wagen in den Kaiserlei-Kreisel. Dann fuhr er über die Brücke. Hier hörte Offenbach auf, und Frankfurt fing an. Rein dienstlich betrachtet, hatte er hier nichts mehr verloren. Wenige Minuten später befand er sich in der Wittelsbacher Allee auf Parkplatzsuche und hatte Glück. Aus einer Lücke unmittelbar vor ihm fuhr ein anderer Kleinwagen heraus. Er stieg aus. Durch eine Toreinfahrt war er in einen Hinterhof gelangt, wo sich die Eingangstür des Hauses befand. Er las die Namen auf den Klingelschildern. Auf der zweiten Klingel von unten stand Wiegand. Er trat ein wenig zurück und blickte an der Fassade hinauf. Das Haus war ein stilvoll renovierter Altbau. Nach hinten hinaus hatte man nachträglich Balkons in einem technischen, modernen Stil angebaut, die deutlich größer waren als die kleineren Originalbalkons vorn zur Straße hinaus mit ihren Sandsteinsockeln und schmiedeeisernen Gittern. Marens Balkon im ersten Stock war liebevoll mit Herbstblumen bepflanzt. In der Nachmittagssonne glühten sie vielfarbig. Lebte Maren dort nur mit Julia, oder blickte er gerade auf einen gemütlichen Familien-Frühstücksbalkon? Diese Information war dem Türschild, das keinerlei Vornamen aufwies, nicht zu entnehmen. Er stellte sich vor, wie er da jetzt klingelte und plötzlich Rolf, Marens Ex und vielleicht wieder neuem Ehemann, gegenüberstand oder, noch peinlicher, wie ihm von einem knackigen, jungen Kerl geöffnet wurde, der sich als neuer Lebensgefährte Marens vorstellte. Nein, so ging das nicht. Er musste sich erst ein paar Hintergrundinformationen beschaffen, sozusagen in eigener Sache ermitteln. Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken, weil er wahrnahm, dass oben die Verriegelung der Balkontür geöffnet wurde. Als Versteck gab es nur noch die Möglichkeit, sich dicht an die Hauswand zu pressen.
Von oben hörte er eine wohlbekannte Frauenstimme fluchen: »Garfield, du Biest! Lauf mir nicht vor den Füßen herum!«
Ein dumpfer Schlag folgte. Eine
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