Das verschwundene Kind
der in Metall gefassten Glasschwingtür hatte er sich noch einmal staunend umgeschaut. Über der Treppe befand sich ein rechteckiges Dach, das nach vorn wie ein Buch aufklappte und an beiden Seiten von filigranen Stahlsäulen getragen wurde. Alles in allem wirkte dieser Eingang an dem sonst eher nüchternen, rechteckigen Flachdachbau mit den vielen schmalen Fenstern einladend. Ob das die Offenbacher Kundschaft der Polizisten ähnlich wahrnahm, war fraglich.
»Hier war früher mal eine Versicherung drin«, hatte Heck ihm später erklärt. »Falls du dich wunderst, dass das Offenbacher Polizeipräsidium so klein ist, muss ich dir sagen, wir haben nicht alles an einem Ort untergebracht wie die Frankfurter, sondern in verschiedenen Dependancen. Zum Schießen musst du nach Mühlheim. Die Ermittlungsbehörde sitzt in der Schumannstraße. Das hat den Vorteil, dass die Polizei in Offenbach überall präsent ist. Bevor was passiert, sind wir schon da. Ha, ha.«
Bereits damals hatte Stephan bemerkt, dass Heck bei allem, was andere vielleicht an den Offenbacher Gegebenheiten heftig kritisiert hätten, auf die positive Seite verwies. Auf sein Offenbach ließ er nichts kommen.
Heck räusperte sich laut und vernehmlich, und Lars Stephans Gedanken kehrten wieder zurück in den kleinen Büroraum, in den sich das Team für eine Lagebesprechung gedrängt hatte.
Er und Heck saßen an ihren einander gegenüberstehenden Schreibtischen. Hinter dem alten Kommissar an der Wand prangte ein riesiges signiertes Poster der Offenbacher Kickers. Stephan hatte es noch nicht gewagt, an seiner Wand das Pendant von Eintracht Frankfurt anzubringen, und daher einfach ein Kalenderblatt mit einem tauchenden Delphin hingehängt, von dem er glaubte, dass es äußerst neutral sei. Heck hatte ihn gleich darauf angesprochen: »Bist du Greenpeace-Aktivist, oder was?«
Ernie saß auf einem Stuhl dicht neben Heck. Liebe Kinder, gleich kommen Ernie und Gerd, witzelte Stephan in Gedanken. Hölzinger lehnte mit verschränkten Armen am Rollschrank neben der Tür.
»Fassen wir mal zusammen, was wir haben«, begann Heck. Sofort sprudelte Tobias Hölzinger ungefragt seinen Bericht heraus. Während es um Hecks Mundwinkel unwillig zuckte, hing Ernestine begeistert an den Lippen des jungen Kollegen. Mit seinem Outfit hätte er in jeder Vorabend-Polizeiserie auftreten können. Er trug eine halb geöffnete Blousonjacke, welche den Blick auf die Sicherheitsweste freigab. Die breiten Träger des Pistolenhalfters bauschten die Hemdsärmel zu imposanter Größe auf. An seinem muskulösen Halsansatz konnte man erkennen, dass Hölzinger fleißig Kraftsport betrieb.
Statt dessen Bericht zu folgen, stellte Lars Stephan Betrachtungen über Hölzingers Frisur an und überlegte, was es wohl kostete, sich die Haarspitzen in diesem aufdringlichen Gelbblond einfärben zu lassen, und wie lange und wie viel Haargel man morgens wohl brauchte, um sich das Haar zu einem derart gockelhaften Kamm zu stylen. Inzwischen fiel ihm auch ein, woran ihn der junge Kollege erinnerte: an die Stachelschweine im Frankfurter Zoo. Deren Stacheln zeigten auch jenen dunklen Farbansatz an der Haut und helle Spitzen. Die leichte Nackensteifigkeit, die bei Tobias Hölzinger ihren Grund in den zu eng sitzenden Polizeiutensilien hatte, wurde bei den Stachelschweinen durch ihre Ganzkörperbestachelung verursacht.
Stephan war gerade dabei, sich Hölzinger in einer frisurschonenden Stellung über einer Frau vorzustellen, als er Hecks herausfordernden Blick auf sich gerichtet fühlte. Sichtlich ungehalten über den blumigen, aber substanzarmen Bericht des jungen Polizisten und die Unaufmerksamkeit des neuen Kollegen, atmete Heck schnaubend ein und wiederholte seine Frage an Stephan: »Ich hatte dich gefragt, woher die dreitausend Euro monatlich kommen könnten, die Özlem Onurhan seit März regelmäßig als ›Eingang‹ in ihrem Notizbuch verzeichnet hat. In verschiedenen Behältern und Kissen in der Wohnung haben wir insgesamt fünfundzwanzigtausend Euro gefunden. Möglich, dass noch mehr Geld vorhanden und entwendet worden war. Also, woher könnte das Geld stammen?«
»Prostitution, Drogenhandel, Geldwäscherei«, zählte Stephan mechanisch auf und erkannte an dem Gesichtsausdruck seines Kollegen, dass dieser kurz vor einer Explosion stand.
Mühsam beherrscht presste Heck hervor: »Hat noch jemand von euch gestern Abend Krimis geguckt und kann etwas dazu beisteuern?«
»Vielleicht von ihren Eltern«,
Weitere Kostenlose Bücher