Das verschwundene Kind
antwortete Tobias Hölzinger prompt, und Heck schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.
Ernestine brachte sich ein und las von ihrem Notizblock vor: »Der Vater arbeitet bei der Stadtreinigung. Die Mutter in einer Kindertagesstätte in der Küche. Sie spricht offensichtlich kaum Deutsch, obwohl sie schon seit achtundzwanzig Jahren in Deutschland ist. Die Kinder der Familie sind, außer Özlem, in Offenbach geboren. Özlem hat eine vierjährige Schwester namens Filiz, die noch in den Kindergarten geht, und einen Bruder namens Erkan, fünfzehn Jahre alt, der die neunte Klasse einer Gesamtschule besucht. Es gibt eine Akte, weil der Verdacht besteht, dass er an einem Straßenraub beteiligt war. Er ist im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren auch wegen anderer Gewaltdelikte aufgefallen, seit einem Jahr allerdings unauffällig.«
»Da haben wir’s«, unterbrach sie Tobias Hölzinger. »Da wäre ja schon ein Ermittlungsansatz. Der Bruder könnte seine Schwester auf dem Gewissen haben, weil sie mit ihrem Lebenswandel Schande über die Familie gebracht hat. Das ist bei denen durchaus üblich.« Niemand reagierte auf Hölzingers Bemerkung, und Ernie fuhr ungerührt fort: »Eine weitere Schwester von siebzehn Jahren namens Sümeyye besucht die Oberstufe eines Offenbacher Gymnasiums, ein weiterer Bruder namens Yunus ist zwanzig Jahre alt, studiert an der Fachhochschule Maschinenbau und Elektrotechnik.«
»Auch das noch!«, war Tobias Hölzinger wieder zu vernehmen. »Wir müssen auf jeden Fall den Staatsschutz einschalten!« Und als er die ratlosen Mienen der anderen registrierte, fügte er hinzu: »Dieser letzte Bruder erfüllt doch voll die Kriterien für die Rasterfahndung. Vielleicht ist der zu Hause im Keller schon fröhlich am Bombenbasteln. Die mehr westlich orientierte Schwester hat das herausgefunden oder vermutet und wurde zum Schweigen gebracht. Ihr wisst ja, auch die gewählte Tatwaffe sagt einiges aus. Also, die meisten Erwürgten sind Leute, die daran gehindert werden sollen, etwas auszuplaudern. Auf jeden Fall sollten wir diesen Bruder dem BKA melden, am Ende haben sie ihn sogar schon auf ihrer Liste als Gefährder rot angestrichen! Das ist eine Spur, die wir auf jeden Fall verfolgen sollten!«
Heck saß zusammengesunken und mit halb geschlossenen Augen an seinem Schreibtisch und betrachtete einen dünnen Stift, den er erstaunlich geschickt zwischen den Spitzen seiner klobigen Zeigefinger balancierte. Die Geduld, mit der er das Ende von Hölzingers Erklärungen abwartete, hatte etwas Bedrohliches. Stephan bemerkte davon nichts, denn er war gerade dabei, auf dem Papier seiner Schreibtischunterlage ein kleines Stachelschwein zu zeichnen, das auf einer großen, schwarzen Kugel mit einer Zündschnur saß. Am Ende der Zündschnur züngelte ein kleines Flämmchen. In Stephans Kopf hatte sich dazu noch die Titelmelodie der Sesamstraße als Ohrwurm eingenistet.
Nach Hölzingers Bericht stellte sich ein beklemmendes Schweigen ein.
Ernestine Hoff schaute ratlos in die Runde, dann blickte sie hilfesuchend in ihre Unterlagen und ergänzte: »Es gibt noch eine Merkwürdigkeit. Wir haben zwar viel Bargeld gefunden, aber keinerlei Sparbücher, Bankunterlagen oder Kreditkarten. Özlem Onurhan scheint den Banken nicht vertraut zu haben.«
Stephan lachte auf. »Was verständlich ist in diesen trüben Zeiten!«
Alle schauten zu Stephan. Aus seiner Haltung mit dem gezückten Stift schien man zu schließen, dass er auf seinen Einsatz wartete. Er schob hastig einen Locher über seine Zeichnung und begann, geschäftig in den Papieren zu stöbern, die er vorhin beim Hereinkommen achtlos auf den Schreibtisch geworfen hatte.
»Ja, dann«, sagte er schnell und setzte eine amtliche Miene auf, »dann werde ich jetzt mal vorlesen, was die Spusi herausgefunden hat. Also, ich fasse kurz zusammen«, berichtigte er sich mit einem Blick auf den schmollenden Heck. »Özlem Onurhan wurde mit einer breiten Schnur oder einem zusammengerollten Tuch erwürgt.«
»Erdrosselt«, bellte Heck dazwischen.
Lars Stephans Nicken wirkte mehr wie ein erschrecktes Zusammenzucken. Der Ohrwurm war schlagartig verstummt. In der abwartenden Stille fühlte Stephan sich wie ein neuer Schüler, der vor einer lauernden Klasse Rede und Antwort stehen musste. Um sachliche Richtigkeit bemüht, fuhr er fort: »An dem Tuch muss Goldfarbe gewesen sein, vielleicht war es auch eine Schmuckkordel mit Goldfäden. Jedenfalls wurden entsprechende Farbspuren am Hals der
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