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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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kurzgeschnittene, braune Haar. Ab und zu sahen sie beide am Haus hinauf. Als sie Stephan hinter dem Fenster bemerkten, nickten sie ihm beiläufig zu. Die reden gerade über dich und deine Pannen und dass du als Nachfolger für Heck völlig ungeeignet bist, fuhr es ihm durch den Kopf. Ernestine Hoff verschwand wieder im Haus. Klar, dass sie ihre ersten Ermittlungsergebnisse Heck und nicht ihm unterbreiten würde. Der alte Kommissar setzte seinen Weg fort. Stephan schaute ihm nach, bis er in der Toreinfahrt verschwunden war.
    Über die Steinplatten des Hofes wehten trockene Blätter. Es ist Oktober, und du suchst wieder nach einem Kind, dachte er. Wie damals vor drei Jahren. Damals hast du Maren gefunden, und jetzt? Eigentlich hatte er sich von der Versetzung einen Neuanfang versprochen. Er hatte den Dienstort Offenbach, von dem viele meinten, dagegen sei das Frankfurter Bahnhofsviertel das reinste Sanatorium, als besondere Herausforderung empfunden. Mit Ende dreißig trat er jetzt in eine Lebensphase ein, die er gedanklich mit dem Motto »Jetzt oder nie und jetzt erst recht!« überschrieben hatte. Jahrelang hatte er vergeblich versucht, sein Leben in ruhigere Bahnen zu lenken. Es war von vielen »psychischen Beben«, wie er diese Vorkommnisse nannte, erfüllt gewesen. Immer dann, wenn er geglaubt hatte, sich in ruhigeren Gefilden zu bewegen, hatte etwas zu neuen Erschütterungen geführt. Daher hatte er sich entschlossen, es jetzt anders zu versuchen und sich bewusst ins Chaos zu stürzen, bevor es unerwartet über ihn hereinbrach. Insofern war sein Versetzungsgesuch nach Offenbach eine logische Konsequenz gewesen.
    Offiziell hatte er seinen Wunsch nach dienstlicher Veränderung mit seinem Wohnort begründet. Vom Frankfurter Ostend zum Offenbacher Polizeipräsidium konnte er jeden Morgen mit dem Fahrrad fahren. Eigentlich wogen Begründungen dieser Art nicht sehr schwer. Höchstens die Anbindung an eine Familie oder Wohneigentum hätten als Grund für eine Versetzung gelten können. Er hatte weder das eine noch das andere vorzuweisen. Trotzdem wurde seinem Antrag zum nächstmöglichen Termin entsprochen. Inzwischen war ihm klar, dass jede Begründung gegolten hätte, denn er war der Einzige, der freiwillig nach Offenbach versetzt werden wollte. Offenbach. Jahrelang hatte er in Frankfurt gewohnt und konnte sich nicht erinnern, auch nur ein Mal hier gewesen zu sein. Selbst bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen auf dem Bieberer Berg die Offenbacher Kickers gegen Eintracht Frankfurt, Lars Stephans Lieblingsmannschaft, spielten, war er nicht dort aufgetaucht. Der angekündigte riesige Polizeieinsatz, der nötig war, um die Fans auseinanderzuhalten, hatte ihn abgeschreckt. Beim letzten Mal war alles gutgegangen, was sicherlich an der ausgeklügelten Vorbereitung gelegen hatte. Der Offenbacher Oberbürgermeister hatte mit der Frankfurter Oberbürgermeisterin während einer gemeinsamen Mainfahrt die Fan-Schals getauscht und dann eine Wette auf den Sieger abgeschlossen. Das hatte dazu geführt, dass der Offenbacher Oberbürgermeister nach der Niederlage der Kickers auf dem Frankfurter Römerberg die Treppen kehren musste, was etliche Offenbacher ihm sehr übelnahmen, denn die altbekannte Häme der Frankfurter hatte dadurch noch zusätzliches Futter bekommen.
    Jeden Morgen fuhr Lars Stephan jetzt mit dem Fahrrad über die Kaiserlei-Brücke und war in gut zwanzig Minuten in seiner Dienststelle. Inzwischen war ihm bewusst, dass der Main, den er dabei überquerte, zwei Welten voneinander trennte. Die der unaufhaltsam aufsteigenden Metropole Frankfurt, von manchen »Bankfurt« oder »Mainhattan« genannt, und die Welt Offenbachs, einer Stadt, in der sich die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger im gleichen Tempo in die Höhe schraubte wie Frankfurts neue Wolkenkratzer.
    Frankfurt-Bronx war noch eine der witzigeren Bezeichnungen, welche die Frankfurter für ihre Nachbarstadt gefunden hatten. OF , das Autokennzeichen Offenbachs, musste ebenfalls herhalten. Es wurde von den Frankfurtern verschiedentlich interpretiert: Ohne Führerschein, ohne Fahrpraxis, ohne Ferstand …
    Die Tür wurde aufgestoßen.
    »Oh, Sie sind ja noch hier«, sagte einer der Kollegen, der an seinem weißen Overall als Mitarbeiter der Kriminaltechnik erkennbar war.
    Heck hätte ihn sicher beim Vornamen gekannt und freundlich begrüßt. Lars Stephan war so sehr in Gedanken versunken, dass es ihm nicht gelang, ein wenig entgegenkommend zu wirken.

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