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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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So erhielt er nur einen sehr spärlichen Bericht. Heck hätte sicher mehr erfahren. Lars Stephan spürte, dass er aufpassen musste. Allmählich begann in ihm gegenüber Heck ein Konkurrenzverhalten zu wachsen, das nicht gut sein würde. Schließlich war der Alte heute der Einzige gewesen, der ihn unterstützt und verstanden hatte. Jedoch gerade das schien Stephan besonders zu ärgern.
    Zwei Alphas nebeneinander, der eine ein alter Platzhirsch, der andere ein Neuling aus einem fremden Territorium. Ob das auf Dauer gutging, fragte er sich und wandte sich zum Gehen. In der Schranktür begegnete er seinem Spiegelbild. Eigentlich siehst du gar nicht so alt aus, wie du bist, dachte er. Das lag daran, dass er schlank war und dass die blonden, kurzen Haare das erste darin auftauchende Grau gut verbargen. Er trat etwas näher. Rasieren hättest du dich aber noch können heute Morgen, siehst ja aus wie Kater Karlo, tadelte er sich. Männer ohne Frauen verstrauchen wie eine ungemähte Wiese, dachte er und grinste über diesen Vergleich, der ihm eingefallen war, weil er seine Kindheit auf dem Land verbracht hatte.

[home]
    Dienstag, der 9. Oktober
    D as Licht, welches von außen durch ihre Lider drang, schmerzte. Nicht auch noch Schmerzen! Sie versuchte, den Kopf vom Licht wegzudrehen. Doch das verursachte ein Stechen und Reißen im Nacken, das noch schlimmer war als das helle Licht. Sie versuchte, den Mund zu öffnen. Die Lippen klebten aufeinander. Die Zunge fühlte sich an wie ein Pelzklumpen. Dann musste sie wieder im Dunkel versunken sein. Wie lange? Für ein paar Stunden? Oder nur einige Minuten? Es gab keine Zeit mehr. Das war gut so. Sie selbst war aus irgendeinem Grund noch da. Das war weniger gut. Sie wollte … sie wollte nichts. Doch, sie wollte ohne Schmerzen sein. Nein, sie wollte die Schmerzen behalten. Lieber sie spüren als gar nichts. Das war viel schlimmer. Sie müssen es benennen, hatte die Therapeutin gesagt. Nur, wenn es einen Namen hat, können Sie etwas dagegen tun. Bleiernes Schwarzeis, hatte sie es nach einigem Zögern genannt. Das ist der Name, der mir dazu einfällt. Es liegt wie ein eiskalter, schwerer Panzer auf meiner Brust und nimmt mir den Atem und die Bewegungsfähigkeit. Chronische Depression, hatte die Therapeutin erklärt. Und sie hatte versucht, es Hatice zu beschreiben. Dagegen kann man kaum etwas tun, weil schon der Wille fehlt, etwas tun zu wollen. Willenlos, kraftlos, hoffnungslos, antriebslos. Ein Teufelskreis. Es ist keine Krankheit, denn eine Krankheit ist etwas, das man heilen kann, verstehst du? Hatice wollte nicht verstehen und ließ nicht locker. Und sie drängte, weil sie keine Zeit hatte. Schließlich hatte sie sich Hatices Wunsch gebeugt. Hatice. Der Name hallte in ihrem Kopf, so dass es in den Ohren dröhnte. Sie presste beide Hände gegen den Kopf. Der Lärm im Kopf wurde nur noch lauter, schien alles zu übertönen und trug sie zurück in die Vergangenheit. Plötzlich war sie wieder Kind. Die Arme schützend über dem Kopf, saß sie in einer Ecke und ertrug die Hiebe, die auf sie einprasselten. Man musste das einfach aushalten und abwarten, hatte sie damals gelernt. Bloß keine Regung zeigen! Jede Bewegung wurde als Auflehnung missdeutet und animierte den anderen, weiter zu schlagen, immer heftiger, immer rasender.
    Hatice war nicht mehr da. Sie würde reglos verharren und zuschauen, wie sich die Risse im Schwarzeispanzer wieder schlossen. Sie atmete ein und war ein wenig erstaunt darüber, wie mühelos das ging. Sie bewegte vorsichtig und roboterhaft den Kopf wie ein Insekt, das aus der Winterstarre erwacht, und ließ ihre Blicke langsam im Raum umherwandern. Sie wusste nicht, welcher Tag heute war, wie viele Stunden sie hier – wo eigentlich? – gelegen hatte. Nur, dass der schwarze Dämon sich wieder auf ihr niedergelassen hatte. Der Verkehrslärm von draußen und das Licht zerrten sie allmählich in den Tag. Nach einiger Zeit gelang es ihr, sich aufzurichten. Sie hatte auf ihrer Couch gelegen. Sie war in ihrer Wohnung, einem Ort, den andere Menschen als ihr Zuhause bezeichnen würden. Für sie war es ein Versteck, in das sie sich zurückzog. Manchmal war es eine Höhle, in die sie wie ein Tier ihre Beute schleppte. Beute, die sie um sich lagern musste als Beweis für ihre Existenz. Du hast was, du bist was. Gut tat es, anderen etwas zu nehmen. Gut tat es ebenso, anderen etwas geben zu können. Aber aus dem Bestand in ihrer Höhle konnte sie nichts hergeben. Deshalb

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