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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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zu Boden gegangene Plastikgießkanne, wie sich herausstellte. Ein Wasserschwall ergoss sich durch die Ablaufrinnen des Balkons auf Lars Stephan.
    Als er hörte, dass Maren den Balkon wieder verlassen hatte, begab er sich zügig zu seinem Auto. Die Lederjacke hatte einiges abgehalten. Aber es war ihm Wasser über den Kopf in den Hemdkragen geflossen. Stephan öffnete den Kofferraum. So etwas wie ein Handtuch gab es da nicht, nur eine grellgrüne Signalweste mit der roten Aufschrift POLIZEI . Er schüttelte das Wasser von der Lederjacke ab und legte sie ausgebreitet in den Kofferraum. Dann zog er das Hemd aus und rubbelte sich mit dem Rückenteil, das nicht so durchnässt war, die Haare trocken.
    »Sache Sie mal, was mache Sie dann da?«, sagte plötzlich ein älterer Mann mit blauer Latzhose, der Lars Stephans nackten Oberkörper alarmiert musterte.
    »Haare abtrocknen, sieht man doch«, antwortete Lars Stephan.
    »Ei un wieso des?«
    »Weil ich gerade geduscht habe!«
    »Ei, wo dann des?«
    »Ich wohne hier nämlich«, erklärte Lars Stephan und zeigte auf das Auto.
    Dabei fiel Latzhoses Blick auf das Nummernschild.
    »Offebach«, stöhnte er, »vorne O un hinne Ach!«
    »Tja, Wohnungen sind nun mal teuer!«, sagte Stephan, stieg ein und fuhr davon.
    *
    Es schrie schon wieder. Sollten Babys nicht stundenlang ununterbrochen schlafen? Dieses hier tat das nicht. Es trank einige Schlucke, dann begann es sich plötzlich zu winden, drehte den Kopf zur Seite, nahm den Schnuller der Flasche nicht mehr an und schrie gellend los, egal, ob es Tag war oder Nacht. Manchmal schlummerte es ein wenig ein, für zwanzig Minuten oder höchstens eine Stunde. Das war kurze, geschenkte Zeit, mit der sie nichts anzufangen wusste. Sie saß dann wie gebannt da und beobachtete das kleine Bündel, das mit kurzen Atemzügen in das Kissen atmete. Irgendwann ging wieder ein Zucken durch seinen Körper. Noch im Schlaf begann es erneut zu wimmern. Sie konnte es nicht ertragen, wenn von ihr etwas nachdrücklich gefordert wurde. Sie spürte, wie sie begann, das Schreibündel dafür zu hassen. Sie hatte schon alles versucht, um es zur Ruhe zu bringen. Es gab ein Buch. Das hatte Hatice mitgebracht. Das Buch enthielt viel Werbung über Babynahrung, aber auch Ratschläge zur Pflege. Dreimonatskoliken stand dort als Erklärung für unbändiges Schreien, und es gab einen Hinweis auf einige Teesorten, die angeblich helfen sollten. Sie hatte die Tees ausprobiert. Sie nützten nichts. Inzwischen hatte sie zwei andere Möglichkeiten entdeckt. Die eine stand bei ihr schon längere Zeit im Schrank. Mehrere Flaschen hatte sie sich inzwischen zusammengehamstert für eigene schlechtere Zeiten. Von Apotheke zu Apotheke war sie gezogen und hatte Geschichten erzählt, warum sie das Rezept für diesen Hustensaft nachreichen würde. Ein, zwei Teelöffel davon, und das Bündel schlief fünf oder sechs Stunden durch. Man konnte die Schlafzeit noch verlängern, indem man es mit dem Kinderwagen nach draußen stellte. Die kleine Terrasse war tief in das Dach eingelassen, so dass sie von außen nicht eingesehen werden konnte. Das war gut. Die kühlen Herbsttemperaturen schienen eine positive Wirkung auf den Schlaf des Bündels zu haben. Wenn es nur nicht schrie! Dann war es, als wäre es gar nicht da, als wäre das alles nicht geschehen. Genau das war es, was sie sich zutiefst wünschte.

[home]
    Mittwoch, der 10. Oktober
    L ars Stephan blickte aus seinem Bürofenster hinüber zu den alten Bäumen des Dreieichparks, deren Laub und Nadeln von Dunkelgrün über Orange-Gelb bis Feuerrot und sogar Violett die ganze Skala der Herbstfarben zeigten. So einen schönen Ausblick haben die in ihrem grauen Riesenbunker in Frankfurt nicht, dachte er. Überhaupt hatte dieses Gebäude aus den sechziger Jahren etwas Beschauliches wie ein alter Heinz-Rühmann-Film, wo selbst ein Taschendieb sympathisch wirkte. Einen solchen Film könnte man hier jederzeit ohne große Änderungen der Dekoration drehen. Dass das Offenbacher Stadtsäckel nicht gerade üppig gefüllt ist, hat manchmal auch seine Vorteile. Notwendige Renovierungsarbeiten unterbleiben, und viele Gebäude, die schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel haben, sind dafür nahezu stilecht erhalten. Dazu gehörten die Sandsteinsockel der Gründerzeit ebenso wie die nüchternen Nachkriegsbauten. Stephan erinnerte sich, wie er vor wenigen Wochen zum ersten Mal die breite Treppe zum Haupteingang des Präsidiums hinaufgegangen war. Oben vor

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