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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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trat mit ihm in den Flur. Dort gab es kaum noch eine Möglichkeit, durchzukommen. Rechts und links stapelten sich Berge von Zeitschriften, Prospekten, Briefumschlägen, Büchern, Kleidern, Schuhen. In einem Plastikeimer steckten Flaschen. Ein Regal war angefüllt mit Farbtuben, Dosen und verschiedenen Lösemitteln. In Gläsern steckten Pinsel aller Größen, manche in stinkende Flüssigkeiten getaucht. Eine dicke, schwarze Spinne lief vor Marens Füßen über den Boden und verschwand unter dem Regal.
    Maren fasste sich an die Kehle und betrachtete entsetzt die Szenerie. Ein fahler Lichtstrahl fiel durch einen Türspalt am Ende des Flurs. Von dort dröhnte das sonore Brummen Hunderter Fliegen. Ein wenig ähnelte der Grundriss dieser Wohnung ihrer eigenen. Daraus konnte Maren schließen, welcher Raum sich dort befand. Es brauchte nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, wie eine Küche aussah, in der Scharen von Insekten herumkrabbelten.
    »Lass uns wieder gehen, es ist eklig hier!«, flüsterte sie.
    »Und deine Ohrstecker? Wenigstens danach könnten wir mal schauen.«
    »Wie sollen wir hier etwas finden?«
    Er deutete auf die Wohnzimmertür. »Vielleicht eher da.«
    Sie betraten den Raum. Stickige Luft schlug ihnen entgegen. Milchiges Nebellicht fiel durch ein schmales Gaubenfenster gegenüber der Tür. Der Boden war mit leeren Flaschen, schmutzigem Geschirr und Kleidern bedeckt. An einer Wand stapelten sich bemalte Leinwände. Rundherum steckten Rollen aus Papier. Auf einem von Flecken übersäten, langflorigen Teppich stand ein rechteckiger Glastisch mit Metallgestell. Darauf befanden sich verschiedene kleine Gefäße, angefüllt mit Perlen, Nadeln, Knöpfen und …
    »Meine Ohrstecker!«, rief Maren. Sie hob ein kleines Glasgefäß hoch.
    »Bist du sicher?«, fragte er.
    »Klar, sie hat meine Glasschale, in der ich sie deponiert hatte, auch gleich mitgenommen.« Maren steckte beides in die Jackentasche.
    »Dann können wir jetzt gehen«, schlug Lars vor. »Dein Halstuch wirst du nicht finden können, ohne dieses Chaos zu durchwühlen.« Ihre Blicke wanderten noch einmal durch den Raum.
    Maren nickte. Sie schaute auf zwei große Glastüren, die sich in der Wand neben der Zimmertür befanden und die ihr beim Hereinkommen nicht aufgefallen waren. Ein schmuddeliger Vorhang verdeckte sie teilweise. Durch die wolkige Gardine war zu erkennen, dass die Türen auf eine kleine Dachterrasse führten. Eine Bewegung dort draußen erregte ihre Aufmerksamkeit. Lars machte einen großen Schritt über den Müll und zog den Vorhang zurück. Eine stattliche Rabenkrähe hüpfte auf die Brüstung und flog dann mit ausladenden Schwingen davon.
    Der Satz
Krähen hacken neugeborenen Lämmern die Augen aus,
fiel Maren plötzlich ein. Ihr Unterbewusstsein musste bereits auf den Gegenstand reagiert haben, von dem sich die Krähe erhoben hatte. Er schaukelte durch die Berührung des Vogels noch ein wenig.
    Lars und Maren erfassten die Situation gleichzeitig und erstarrten. Draußen auf der Terrasse stand ein Kinderwagen. Lange schon musste er da stehen. Welkes Herbstlaub türmte sich auf der Abdeckung. Zwei dicke Fliegen mit schillernden Körpern landeten kurz, krochen hektisch in Zickzacklinien und machten sich ebenso schnell wieder davon. Vor dem Verdeck wehte ein zerrissenes Spinnennetz im zarten Luftzug.
    »O Gott«, flüsterte Maren und presste die Hand auf den Mund.
    »Ich geh nachsehen!«, sagte Lars mit einer Stimme wie aus Sandpapier.
    »Nicht«, flüsterte Maren, »lass uns einfach nur weg hier.«
    »Das geht nicht«, sagte Lars. Jetzt klang er wieder wie ein Polizist. Er probierte, die Tür zu öffnen. Sie klemmte und gab schließlich nach. Er stolperte über eine Flasche, die klirrend davonrollte. Lars schien das gar nicht zu hören. In winzigen Schritten näherte er sich dem Kinderwagen. Dann bückte er sich langsam, ganz langsam darüber.
    Maren war bewegungsunfähig. Ihr Herz klopfte im Hals. Sie kannte Lars’ Geschichte. Sie wusste, was er sich da gerade zumutete. Er hielt in der Bewegung inne. Dann drückte er mit einer energischen Bewegung das Verdeck zurück. Einen Moment noch starrte er in das Innere des Wagens, dann schien er sich an Maren zu erinnern. Er schaute in ihre Richtung und konnte sie nicht richtig erkennen, weil die Scheibe spiegelte.
    Seine Blicke trafen sie nicht. Er schüttelte den Kopf. Nichts mehr zu machen, bedeutete das für Maren. Tot, es ist tot, wie schrecklich, dachte sie. Da lebt man in einem

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