Das verschwundene Kind
ansetzte: »Andrea Schröder, vierzig Jahre alt. In Frankfurt geboren. Gewalttätiger Vater. Psychisch kranke Mutter. Ein jüngeres Geschwisterkind war früh am plötzlichen Kindstod gestorben. Die Eltern trennten sich, als Andrea zwölf Jahre alt war. Es gab einige Inobhutnahmen durch das Jugendamt, weil die Mutter nicht in der Lage war, sich um die Tochter zu kümmern. Nachdem die Mutter dauerhaft in eine psychiatrische Klinik kam, nahm eine Halbschwester der Mutter die Nichte bei sich auf. Sie erhielt nie das Sorgerecht, das blieb bei der Mutter oder beim Jugendamt. Bei der Tante ging es mit Andrea zunächst einmal aufwärts. Sie schaffte das Abitur und studierte in Offenbach an der Hochschule für Gestaltung. Der Tante gehört die Eigentumswohnung in der Frankfurter Wittelsbacher Allee. Jetzt lebt diese Tante mit ihrem neuen Lebensgefährten auf Mallorca und hat ihrer Nichte die Wohnung überlassen. Nach dem Studium arbeitete Andrea Schröder als freie Künstlerin und hatte sogar einige Ausstellungen. Von ihrer Kunst allein konnte sie jedoch nicht leben. Daher schloss sie ein Lehramtsstudium an. Geschichte und Kunst. An einer Frankfurter Realschule arbeitete sie als Lehrerin, wurde sogar Beamtin auf Lebenszeit. Dies ist übrigens die Schule, die auch von Hatice Ciftci besucht wurde. Hier müssen sie sich das erste Mal begegnet sein.«
Auf einen Wink der Hoff fuhr Hölzinger fort: »Ich habe mit der Schulleiterin dieser Realschule und dann noch mit dem nachfolgenden Schulleiter aus Offenbach gesprochen. Sie schildern die Schröder als sehr engagierte, sozial einfühlsame Lehrerin. Um viele Schülerinnen mit schwerem Schicksal hat sie sich hingebungsvoll gekümmert. Teilweise war sie nicht mehr in der Lage, die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben zu erkennen. Kinder, denen es zu Hause schlechtging, nahm sie bei sich auf. Im Unterricht brachte sie viel Privates zur Sprache und vernachlässigte die Inhalte. Dadurch bekam sie Probleme mit den Eltern der Schüler und der Schulleitung. Sie wechselte die Schule und versuchte einen Neubeginn an einer Schule in Offenbach. Doch auch hier gab es schnell die gleichen Probleme. Sie flüchtete sich immer stärker in ihre Sucht, die sie wohl lange verheimlicht hat. Aber wirklich gekümmert hat sich auch nie jemand um sie. Jedenfalls hat sie sich immer häufiger krankgemeldet. Zurzeit fehlt sie seit Ende der Sommerferien in ihrer Schule.«
»Mit der Tante habe ich telefoniert«, fuhr Ernestine Hoff fort. »Sie hatte nur sporadisch Telefonkontakt mit ihrer Nichte und glaubt, dass sie immer noch erfolgreich als Lehrerin arbeitet und in besten Verhältnissen in der Eigentumswohnung lebt. Irgendwann und irgendwo, vermutlich in Offenbach, muss die Schröder Hatice Ciftci wieder begegnet sein. Wir haben uns noch einmal bei den Wohnungsnachbarn in der Domstraße umgehört. Sie kennen keine Andrea Schröder und niemanden, der auf die Beschreibung passt. Sie berichten nur von ›Kopftuchfrauen‹, die in der Wohnung ein und aus gingen. Manchmal mit Kinderwagen, manchmal ohne. Sie haben nicht auf die Gesichter geachtet. Das Kopftuch war eine ideale Tarnung.«
Alle schwiegen nachdenklich.
Heck ergriff als Erster wieder das Wort: »Nehmen wir jetzt einfach mal alles zusammen, was wir wissen, und stricken wir daraus eine Geschichte. Meine lautet folgendermaßen: Hatice stellt fest, dass sie schwanger ist. Florian Sauer, der Vater des Kindes, drängt sie zur Abtreibung und zeigt kein Interesse, zu ihr zu stehen. Sie versucht, allein zurechtzukommen. Eigentlich muss sie zum Arzt und weiß nicht, wie sie das anstellen soll ohne Papiere. Sie trifft zufällig Andrea Schröder, die ihr helfen will. Sie lässt keine Abtreibung vornehmen, obwohl sie sich in ihrer Situation eigentlich nicht mit einem Kind belasten kann. Vielleicht hat Andrea Schröder sie darum gebeten. Vielleicht hat Andrea Schröder gehofft, dass ein Kind die große Wende in ihrem Leben bedeuten würde. Hatice Ciftci verspricht Andrea Schröder das Kind. Irgendwo wird das Kind geboren. Wir wissen noch nicht, wo. Der Gerichtsmediziner sagt, die Geburt muss mit ärztlicher Hilfe stattgefunden haben, denn der Dammschnitt ist professionell ausgeführt und vernäht worden. Vielleicht hat die Schröder ihr etwas vermittelt.«
Ernestine schaltete sich ein: »Es gibt bei den gemeldeten Geburten seit Anfang September auch keine Geburt auf den Namen Schröder. Es hätte ja sein können, dass Hatice Ciftci sich mit deren Daten getarnt
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