Das verschwundene Kind
Einblutungen in den Augen.«
Stephan erschauderte, er wandte sich ab und blickte sich um. Die Wohnung war ein modern eingerichtetes Zwei-Zimmer-Appartement in einem renovierten Altbau im Buchrainweg, nicht weit vom Polizeipräsidium entfernt. Stephan suchte nach einem antiken Schrank oder einem ähnlichen Möbelstück, doch dergleichen gab es hier nicht. Stühle waren umgestoßen worden, eine Grünpflanze lag mit zerbrochenem Topf auf dem Parkett.
»Im Gegensatz zu dem Fall ›Hatice‹ hat hier anscheinend ein heftiger Kampf stattgefunden«, kommentierte Heck und ergänzte: »Keine Einbruchsspuren an der Tür. Täter wurde hereingelassen oder hatte einen Schlüssel.«
Stephan streifte sich die Einmalhandschuhe über und ging zu dem runden Tisch in einer Fensternische. Darauf stand eine große Teekanne auf einem Stövchen. Das Teelicht war ausgebrannt, doch in der Luft hing noch der Geruch, der Stephan immer an Weihnachten erinnerte. Neben der Kanne stand ein bunter Keramikbecher, der halbvoll mit rotem Tee gefüllt war. Zu beiden Seiten des Tisches waren die Stühle umgestoßen.
»Hier hat eine weitere Person gesessen und mit ihr Tee getrunken«, erklärte Stephan.
»Du meinst, wegen der Stühle?«, fragte Heck.
»Auch. Aber eigentlich deswegen!« Stephan deutete auf einen runden Abdruck auf der Tischplatte, nahm den Becher und stellte ihn auf den Umriss. »Die andere Tasse war breiter«, erklärte er dann.
Er ging in die Küche und öffnete die Spülmaschine. Feuchter Dunst schlug ihm entgegen. Das Gerät war nur spärlich mit Geschirr befüllt, dennoch hatte jemand es eingeschaltet. Die Kontrolllampe leuchtete noch. Auf den Böden der Gläser und Tassen befanden sich kleine Wasserpfützen. Stephan zog einen Keramikbecher hervor und ging damit zurück ins Wohnzimmer.
»Passt«, stellte er fest und ließ den Becher stehen.
Aus der Gruppe der Kriminaltechniker löste sich eine Gestalt. Es war Frank Günther. In seinem weißen Schutzanzug sah er aus wie eine große, bleiche Made.
»Hej, bringt mir hier net alles doschenanner! Da warn mir noch net!«
»Könntest du an diesem Becher noch Spuren finden, auch wenn er in der Spülmaschine war?«
Frank Günther sah Stephan mit gequälter Miene an. Dann verschwand er erst einmal in der Küche und kam zügig wieder zurück. »Packs oi!«, kommandierte er, und Stephan erklärte er: »Euer Täder hat sich net so gut mit dere Maschin ausgekannt. Anstatt von dem Spülprogramm hat er nur des Vorprogramm oigeschdellt. Des spült nur korz alles mit klarem Wasser ab, ohne Fettlöser, do werrn mir noch was finne könne!«
»Dann nehmt Fingerabdrücke von der Oberfläche der Spülmaschine, rund um den Tisch, von den Stühlen. Auch die Teekanne nicht vergessen«, wies Heck an.
Frank Günther hörte mitleidig zu. »Is ja schon gut, isch hab zugehert. Ihr glaubt immer, mir wärn bleed!«
Heck grinste. Dann versuchte er zu rekonstruieren: »Es läutet an der Tür. Sie öffnet und lässt den Besuch herein, weil sie ihn kennt, und kocht dann erst einmal Tee. Also ist sie von einem gemütlichen Beisammensein, nicht aber von einer Gefahr ausgegangen.«
Stephan schaltete sich ein: »Oder sie hatte bereits vorher Tee gekocht und den Tisch gedeckt, weil der Besuch sich angekündigt hatte.«
Heck wandte sich an Frank Günther. »Vergesst nicht, die Telefone zu überprüfen. Anrufe. Anrufbeantworter. SMS .« Ein Stöhnen war die Antwort.
Ernestine kam herein und berichtete: »Ihre Mutter hat sie heute Morgen hier gefunden. Sie war gestern Abend mit ihren Eltern und Florian Sauer zum Essen verabredet, ist dann aber nicht erschienen. Die Mutter hatte bei einigen Freunden angerufen, ob sie vielleicht dort ist. Florian Sauer hatte gestern seine Teilnahme an diesem Essen abgesagt. Ich habe ihn bereits befragt: Er ist nicht gekommen, weil die beiden sich vorgestern sozusagen ›entlobt‹ haben. Das wussten auch die Eltern, deshalb dachten sie, Svenja sei bei einer Freundin, um sich auszuweinen. Den Grund für die Entlobung erklärt Florian Sauer folgendermaßen: Sie hätten schon länger gemerkt, dass sie eigentlich nicht zueinander passen. Wenn ihr mich fragt, klingt das etwas fadenscheinig.«
»Hast du ihn nach seinem Alibi für gestern Nachmittag und Abend befragt?«, erkundigte sich Heck.
Ernestine zückte ihr Notizbuch. »Leider hatten wir ihn seit Mittwoch nicht mehr observiert. Keine Ergebnisse und zu wenig Personal! Gestern Mittag und Nachmittag war er in der Uni. Am Abend
Weitere Kostenlose Bücher