Das verschwundene Kind
im Kinderwagen schlafend im Treppenhaus stehen und öffnete leise mit dem Schlüssel die Wohnungstür. Sie hörte deutlich, dass sich jemand in der Wohnung befand, und flüchtete sofort. Diese Erlebnisse brachten sie psychisch so sehr an die Grenzen, dass sie wieder vermehrt zu Alkohol und Tabletten griff. Sie gibt zu, in solchen Ausnahmezuständen die Wohnung ihrer Nachbarin Maren Wiegand aufgesucht zu haben, die ihr als Zufluchtsort diente. Die Zuneigungsbekundungen des Katers und sein Schnurren beruhigten sie ebenso wie die Möglichkeit, in dieser wohnlichen Umgebung dem eigenen Chaos zu entgehen. Der Presse entnahm sie, dass zwar von dem Mord in Offenbach berichtet wurde, nicht aber von einem verschwundenen Kind. Sie hoffte, dass die Polizei diese Spur nicht aufgenommen hatte, und fasste daher einige Tage später noch einmal den Mut, in die Domstraße zu gehen und ihre Jacke zu holen. An jenem Tag war niemand in der Wohnung, ihre Jacke hing noch immer an der Flurgarderobe. Wir dachten seinerzeit, dass diese Jacke der Toten gehörte, und wunderten uns nur, warum sich gerade an diesem Kleidungsstück so viele rote Katzenhaare befanden. Der Schröder war auch noch eingefallen, dass sich in Hatices Besitz ein Wohnungsschlüssel zu ihrer Wohnung in der Wittelsbacher Allee befand. Auch den wollte sie holen, konnte ihn aber nicht finden. Sie ließ den Schlüssel zur Wohnung in der Domstraße dort in der Wohnung zurück und verschwand. Habe ich noch etwas vergessen?«, endete Heck.
»Ja, ihre Version zum Verbleib des Kindes«, fuhr Stephan fort. »Sie will das Kind zum Schlafen auf die Dachterrasse gestellt haben und ist der festen Überzeugung, dass jemand das Kind von dort entwendet hat. Entweder ist dieser Kidnapper über die Dächer gekommen, oder er hat sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft. Was nicht schwierig ist, denn ich weiß, dass sie den Wohnungsschlüssel in einer Vase im Treppenhaus versteckt hat. Sie selbst meint das damit erklären zu können, dass eine Zimmertür geschlossen war, die sie selbst immer offen stehen lässt.«
Heck nickte zustimmend. »Ja, das war dann wohl alles. Und? Was schließen wir daraus?«
Alle schauten durch die Glasscheibe und beobachteten die Schröder. Sie nippte hin und wieder an ihrem Kaffee und nahm kleine Bissen des Brötchens zu sich. Den Belag hatte sie sorgfältig abgeräumt und auf dem Teller abgelegt. Sie wirkte sehr ruhig.
»Meint ihr, die steht noch unter Medikamenten?«, fragte Ernestine.
»Möglich«, sagte Stephan, »aber sie wirkte beim Gespräch nicht so sediert, dass man annehmen musste, sie weiß nicht, was sie sagt.« Heck nickte zustimmend.
»Dann bleibt für uns nur noch die Frage: Hat sie uns angelogen, oder stimmt diese Geschichte? Denkt noch einmal nach! Gibt es da irgendwas, das nicht passt?«
»Ich denke, sie sagt die Wahrheit«, erwiderte Stephan. »Habt ihr gemerkt, wie sie von dem Kind sprach? Nicht sonderlich emotional, beinahe abweisend. Sie wirkt eher erleichtert, dass sie es los ist. Unseren Mordverdacht gegen sie hegten wir, weil wir dachten, sie wollte unbedingt das Kind haben. Dieses Motiv sehe ich nicht mehr. Seht ihr ein anderes?«
»Geld?«, fragte Hölzinger.
Heck schüttelte den Kopf. »Aus der Wohnung wurde kein Geld entwendet. Sie macht mir auch nicht den Eindruck, als bedeute ihr materieller Wohlstand etwas. Nein, Geld scheidet aus.«
»Auch sind wir bis jetzt davon ausgegangen, dass Hatice Ciftci und Svenja Stummer vom selben Täter umgebracht wurden. Auch hier sehe ich kein Motiv für die Schröder«, ergänzte Stephan. »Was ist eigentlich mit der DNS -Spur an der Teetasse in der Wohnung der Stummer?«
Heck telefonierte mit der Kriminaltechnik. »Es war doch schon einiges abgespült, ein paar Fragmente haben sie sichern können. Aber da gibt es keine Übereinstimmung mit einer uns bekannten DNS , also auch nicht mit Florian Sauer oder seinen Eltern oder der Schröder.«
»Sie war’s nicht«, sagte Ernestine resigniert. »Wir müssen noch einmal von vorn anfangen.«
Rundherum entstand betretenes Schweigen. Heck donnerte schließlich dazwischen: »Also, dann schicken wir sie jetzt nach Hause. Und das Kind geben wir immer noch nicht in die Fahndung. Es gibt jemanden, den wir damit in Sicherheit wiegen, und diese Person müssen wir aus der Reserve locken.«
[home]
Dienstag, der 6. November
S tephan saß an seinem Schreibtisch und schaute durch das Bürofenster hinaus in den Novembernebel. Die Schwaden waren so dicht,
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